Warum der Fall Pell eine juristische Wendung nehmen könnte

Chancen auf ein gegenteiliges Urteil?

Das Urteil gegen Kardinal Pell wegen sexuellen Missbrauchs ist in der australischen Öffentlichkeit umstritten. Wenn es zu einem Berufungsverfahren kommt, werden dem Kleriker gar Chancen auf ein gegenteiliges Urteil eingeräumt. Warum ist das so?

Gibt es noch eine juristische Wendung im Fall Pell? / © Volker Hartmann (dpa)
Gibt es noch eine juristische Wendung im Fall Pell? / © Volker Hartmann ( dpa )

DOMRADIO.DE: Welche Bedenken gibt es gegenüber dem Verfahren selbst?

Anian Christoph Wimmer (Chefredakteur der deutschsprachigen Ausgabe der Catholic News Agency): Das Verfahren selbst ist in der australischen Öffentlichkeit und unter Juristen stark umstritten. Einerseits, weil die zweifelsfreie Schuld durch ein Geschworenengericht festgestellt wurde. Es ist nur im Bundesstaat Victoria überhaupt möglich, dass so ein prominenter Fall nicht von einem Richter entschieden wird. Und das aufgrund unbestätigter Aussagen eines einzelnen Zeugen.

Es gibt ja auch keine forensischen Beweise, die angeführt wurden. Es gibt auch kein klares Verhaltensmuster eines Pädophilen bei Kardinal Pell oder auch ein Geständnis. Er beteuert nach wie vor seine Unschuld. Jetzt gibt es mehrere Juristen, die sich aus dem Fenster lehnen, unter anderem von der prominenten University of Melbourne. Sie sagen, dass das Berufungsverfahren, das ja ansteht, gute Chancen hat, ein völlig gegenteiliges Urteil zu fällen.

Es kann passieren, dass Kardinal Pell dann freigesprochen wird, sagen zumindest diese Experten.

DOMRADIO.DE: Der Anwalt Pells hat seinen Mandanten während des Prozesses verteidigt und unter anderem gesagt, die sexuellen Übergriffe an Minderjährigen hätten weniger als sechs Minuten gedauert. Daher plädiere er für ein geringeres Strafmaß. Teilweise wurde das ja als Schuldeingeständnis interpretiert. War es das nicht?

Wimmer: Keineswegs. Wer genau nachschaut, was Robert Richter, wie der Mann heißt, einer der führenden Anwälte und ein progressiver Atheist und prominenter Jurist in Australien, gesagt hat, der sieht, dass das ein Appell war, der üblich ist im Rechtsverfahren in angelsächsischen Ländern. Er bittet darum, dass das Strafmaß, für das sich die Geschworenen entschieden hätten, bitte gering sein möge. Dafür hat er sich, Gott sei Dank, mittlerweile entschuldigt.

Das waren wirklich Äußerungen, die nicht nur mir – ich bin selber vierfacher Familienvater – die Frühstücksflocken aus dem Mund hauen.

DOMRADIO.DE: Wie erleben Sie generell die Debatte um Kardinal Pell in Australien?

Wimmer: Weniger einseitig vielleicht als in der weltweiten Öffentlichkeit, wo die Schuldverhältnisse klar zu sein scheinen. Andererseits aber polarisiert der Fall unheimlich. Ich habe schon angedeutet, dass ich selber auch australischer Staatsbürger bin und Kinder habe, die dort geboren wurden und zum Teil in die Schule gegangen sind. Wenn ich mir vorstelle, dass denen irgendwas passiert wäre – Gott behüte den Täter. Aber andererseits bekommt Kardinal Pell Unterstützung von sehr vielen Prominenten.

Fürsprache kommt, mit Blick auf das eigentliche Verfahren, wie schon erwähnt, auch von Juristen. Man merkt, hier steht viel mehr auf dem Spiel als "nur" ein Verfahren. Hier geht es um Meinungsfreiheit, hier geht es um Gerechtigkeit, vor allem und letztlich natürlich um die Wahrheit.

DOMRADIO.DE: Haben Sie Kontakt zu anderen Bischöfen und Kardinälen in ähnlichen Positionen? Sind die nicht auch schockiert von der Wucht, mit der die Diskussion jetzt geführt wird?

Wimmer: Ja bin ich. Und ja sind sie. Wobei sich viele fragen, übrigens nicht nur die Bischöfe, sondern auch Kirchenrechtler und Kollegen in unserem Kreis der weltweiten Catholic News Agency, warum ausgerechnet der Fall Pell solche Wellen schlägt.

Denn die viel krasseren und weitaus schlimmeren Vergehen, zum Beispiel die eines McCarrick und anderer, die viel größere Fragen aufwerfen mit Blick auf die Kirchenkreise insgesamt und den Missbrauchsgipfel, haben deutlich weniger Aufmerksamkeit bekommen. Auch das wird thematisiert und heftig debattiert.

DOMRADIO.DE: Vielleicht auch, weil er als Vertrauter des Papstes galt?

Wimmer: Ja, auf jeden Fall. Da kommt was hinzu, was besonders spannend ist für alle, die sich bei diesem Thema ihre eigenen Gedanken machen wollen. Eine der führenden Vatikanistinnen, die seit 45 Jahren Korrespondentin ist in Rom, eine Mexikanerin, Valentina Alazraki, hat es beim Missbrauchsgipfel selber den 190 oder über 190 Teilnehmern aus aller Welt sagen dürfen.

Sie hat zu ihnen gesagt: Fragt euch selbst, seid ihr so entschlossen, wie wir Journalisten, gegen die entschieden vorzugehen, die Missbrauch begehen oder vertuschen. Das ist, glaube ich, die Kernfrage, die sich jetzt die "Würdenträger" stellen müssen, für sich selbst und natürlich auch für ihre Amtsbrüder.

DOMRADIO.DE: Es heißt ja, die Glaubenskongregation des Vatikans prüft weitere Schritte gegen Pell. Welche Zeichen erwartet die Öffentlichkeit?

Wimmer: Ich denke, die Erwartungen der Öffentlichkeit werden schwer vereinbar sein mit dem, was die Kongregation für die Glaubenslehre wirklich tun kann und wird. Ich bin selber kein Kirchenrechtler, aber ich denke, dass ein Verfahren eingeleitet wird. Die Glaubenskongregation muss ja auch ermitteln.

Sie wird wahrscheinlich auch abwarten, wie sich das strafrechtliche Prozedere in Australien weiterentwickelt – aber selber auch feststellen müssen, was ist los. Es droht die Höchststrafe. Das hat man jetzt als Präzedenzfall auch bei McCarrick gesehen, einem ehemaligen Kardinal: nämlich die Entlassung aus dem Klerikerstand.

Das Interview führte Heike Sicconi. 


Anian Christoph Wimmer (privat)
Anian Christoph Wimmer / ( privat )

Kardinal George Pell  / © Erik Anderson (dpa)
Kardinal George Pell / © Erik Anderson ( dpa )
Quelle:
DR