Caritas zur Familienpolitik im Koalitionsvertrag

"Kinder bleiben ein Armutsrisiko"

Seit letzter Woche steht der Koalitionsvertrag von Union und SPD. Welche Rolle spielt die Familienpolitik? Dr. Frank Johannes Hensel, Diözesan-Caritasdirektor im Erzbistum Köln, im domradio.de-Interview.

 (DR)

domradio.de: Auf neun von 185 Seiten geht es Union und SPD darum, was sie für Familien, Frauen und Kinder tun wollen in den nächsten vier Jahren. Neun von 185 klingt nicht so, als wäre es das wichtigste Thema für die Regierung.

Hensel: Ja, wenn auf den neun Seiten großartiges stehen würde, dann wäre das kein Mengenproblem, aber es ist ungefähr so dünn, wie es aussieht. Es ist kein besonderer Antritt. Offenbar will man in der Familienpolitik im Wesentlichen so weitermachen wie bisher und nichts Wirkliches anpacken.

domradio.de: Sie hatten ja auch einige Kritik an der Familienpolitik der schwarz-gelben Vorgängerregierung. Sehen Sie das jetzt sozusagen in dieser Kontinuität. Gibt es dann auch Kritik an der schwarz-roten Regierung, wenn es dabei bleibt?

Hensel: Die Couleur der Politiker ist da egal. Es ist eine Politik, die im Wesentlichen belohnt, wenn man schnell wieder arbeitet und wenn man schon etwas verdient hat, wenn die Kinder kommen. Es hat wenig damit zu tun, wo wirklich die Bedarfe liegen.

domradio.de: Dann schauen wir mal in den Vertrag hinein. Es ist die Rede von Kita-Ausbau, von Kinderbetreuung. Es soll weiter vorangetrieben und schrittweise ausgebaut werden. Dann heißt es noch, Betriebskitas sollen beworben werden. Heißt das, die künftige Bundesregierung reduziert die Familienpolitik hauptsächlich auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf?

Hensel: Ja, aber eine Vereinbarkeit mit dem Beruf, so würde ich das eher gewichtet sehen. Es geht im Grunde bei allen familien-politischen Leistungen der letzten Jahre immer darum, dass die Kinder möglichst das Erwerbsleben nicht unterbrechen und möglichst wenig tangieren. Und dafür hat man das Elterngeld gebaut und sorgt auch dafür, dass die Leistungen nicht da ankommen, wo einfach die Kinder hin geschenkt sind, sondern da wo Erwerbsarbeit stattfindet und möglichst nicht unterbrochen oder mal ein bisschen zurückgefahren werden sollte. Also das scheint mir eine Richtung zu sein. Man will nicht da unterstützen, wo die Kinder sind und wo die Not ist, sondern da, wo man meint, dass Kinder besser hingehören.

domradio.de: Das heißt, im neuen Koalitionsvertrag steckt noch immer ein wirtschaftlicher Gedanke dahinter, wenn man auf die Vereinbarkeit von Beruf geht.

Hensel: Ja, ein wirtschaftlicher und auch ein wertender Gedanke. Es ist nicht so, dass man schaut, da ist ein Kind hineingeschenkt in diese Familie, in diese Situation und wir schauen, dass wir da etwas tun, zum Beispiel bei Alleinerziehenden, bei Migrantenfamilien, bei Familien mit Hartz IV Bezug. Für die tut man ganz wenig bis nichts. Man tut eigentlich nur etwas für die Familien, die aus einem Erwerbsleben sozusagen mal aufgestört werden, dadurch, dass da ein Kind hinzukommt. Und das wird dann möglichst gängiger gemacht. Das ist zum Beispiel ein Element des Elterngeldes. Auch das einzige Element, das jetzt noch einmal angefasst wird in dem Koalitionsvertrag, als ganz familienspezifische Leistung. Es soll noch leichter werden in Teilzeit Zuschüsse zu bekommen. Die armen Familien und die armen Kinder haben nichts davon.

domradio.de: Bleiben wir mal beim Thema Armut. Es gibt allerlei Vorschläge, die dann auch auf das Problem Altersarmut abzielen. Zum Beispiel diese neue Mütterrente. Ist das denn in Ihrem Sinne?

Hensel: Das war ja eine ganz bekannte Gerechtigkeitslücke. Die Richtung stimmt, die Lebensleistung Kindererziehung auch in der Rente geltend zu machen. Und da hatte man ein Datum, mit einem Unterschied: 1992. Nachher war es irgendwie besser berechnet als vorher und das musste man eh schließen. Das würde ich jetzt aber nicht zu einem großen Wurf überhöhen. Das musste so oder so nachgezogen werden. Und das hätte sicherlich jedwede politische Konstellation auch so gemacht.

domradio.de: Wenn Sie schon das Wort "großer Wurf" in den Mund nehmen. Was fehlt denn aus Ihrer Sicht? Was steht nicht im Koalitionsvertrag? Das ist ja auch eine spannende Perspektive.

Hensel: Es gibt überhaupt keinen Ansatz zum Thema Kinder in Armutsverhältnissen, in armen Familienverhältnissen. Jedes vierte Kind lebt in diesen; statistisch belegt in den Städten in Nordrhein-Westfalen. Im ganzen Bundesgebiet jedes fünfte. Das geht einher mit Chancenarmut, mit Bildungsarmut an ganz vielen Stellen. An diese Verhältnisse wird überhaupt gar nicht herangegangen. Es bleibt so, Kinder bleiben ein Armutsrisiko, insbesondere für Alleinerziehende.

domradio.de: Das heißt, was vermissen Sie am konkretesten? Was müsste jetzt in den nächsten Jahren passieren?

Hensel: Ein paar Punkte, die ganz klar im Raum stehen: Der Kinderregelsatz ist nicht verfassungsgemäß. Das hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt. Daran wird nicht wirklich Hand angelegt. Man hat ein Bildungs- und Teilhabepaket aufgelegt, das ganz schlecht ankommt, in vielerlei Beziehungen. Das gilt es dringend wesentlich zugänglicher zu machen. Dann sind große Systeme gar nicht angefasst worden. Beispielsweise, dass die Kindergesundheit eine Solidarleistung wäre, dass man da ein Kindergesundheitsfond ausstattet. Auch da ist man nicht weitergegangen in unserem Land. Außerdem wird deutlich, dass zum Beispiel - weil Sie eben sagten, die Mütterrente ist doch jetzt ein positiver Punkt - das wird von den Beitragszahlern entrichtet, obwohl dafür gar keine Beiträge damals eingezahlt wurden. Das ist auch wieder nicht wirklich solidarisch verteilt, obwohl es solidarische Mütterrente heißt, ist es steuerfinanziert. Also, es gibt auch einige Geldeinzugsverfahren, die einfach daneben sind, und das hat man nicht angepackt.

Das Interview führte Matthias Friebe.


Dr. Frank Johannes Hensel, Diözesan-Caritasdirektor (CI)
Dr. Frank Johannes Hensel, Diözesan-Caritasdirektor / ( CI )