Caritas-Studie zu Gewalt in kirchlichen Behindertenheimen nach 1945

Jahre der Angst

Nun kommen die Betroffenen zu Wort. Eine neue Caritas-Studie arbeitet erstmals die kirchliche Behindertenhilfe in Westdeutschland von 1949 bis 1975 auf - und zeichnet ein oft bedrückendes Bild, wie Studien-Mitinitiator Dr. Thorsten Hinz berichtet.

Gewalt gab es auch in kirchlichen Behindertenheimen nach 1945 (dpa)
Gewalt gab es auch in kirchlichen Behindertenheimen nach 1945 / ( dpa )

domradio.de: Missbrauch und Misshandlung in katholischen Einrichtungen - das ist kein leichtes Thema. Über schlimme Erlebnisse zu sprechen, ist sowieso nicht einfach. Sie haben nun Menschen mit Behinderungen zu ihren Erlebnissen befragt - eine sensible Sache. Wie haben Sie das gemacht?

Dr. Thorsten Hinz (Geschäftsführer Caritasverband Behindertenhilfe und Psychiatrie e.V in Berlin): Wir haben qualifizierte und unabhängige Forscherinnen und Forscher gebeten, für uns tätig zu werden. Damit ist erstmals eine, auf die alten Bundesländer bezogen, bundesweite Erfassung dessen erfolgt, was damals an Leid und Unrecht in katholischen Einrichtungen der Behindertenhilfe und Psychiatrie geschehen ist.

domradio.de: Die Befragten sind heute im Schnitt 65 Jahre alt und leben auch teilweise immer noch in betreuten Einrichtungen. Haben die Menschen Auskunft gegeben?

Hinz: Sie haben über ihren Alltag gesprochen und deutlich gemacht, dass dieser Alltag sehr klar und streng strukturiert war. Die meisten dieser Einrichtungen lagen und liegen auch heute noch im ländlichen Raum am Rande der Städte. Das waren größtenteils geschlossene Gemeinschaften. Gerade in solchen abgeschlossenen Gemeinschaften - die Wissenschaft spricht von "totalen Institutionen" - liegt eine sehr viel höhere Gefahr darin, dass Menschen Opfer von Gewalt und Missbrauch werden können. Das ist leider auch eingetreten. Wir sind aber sehr dankbar, dass die Menschen uns darüber berichtet haben.

domradio.de: Welche Formen von Missbrauch gab es?

Hinz: Es gab ein hohes Maß an körperlicher Gewalt. Fast 70 Prozent der Menschen, die mit uns gesprochen haben, klagten über körperliche Gewalterfahrung. Etwa 60 Prozent der Befragten haben von seelischer Gewalt gesprochen. Ungefähr 30 Prozent sprechen von sexueller und sexualisierter Gewalt. Das sind erschreckende Zahlen, die belegen, dass es damals ein hohes Maß an Unrecht gab - auch wenn es im Kontext der Zeit und der Rahmenbedingungen zu sehen ist.

domradio.de: Die Täterinnen und Täter waren in diesen Nachkriegsjahren meist die Betreuerinnen und Betreuer?

Hinz: Nicht nur, es gab auch unter den Bewohnerinnen und Bewohnern ein hohes Maß an Gewalt. Ein Stück weit erklärt sich das aus den Mustern dessen, was sozusagen die Regel war. Kinder und Jugendliche hatten damals keine andere Orientierung als das, was sie in ihrer Einrichtung als relativ abgeschottete Institution erlebt haben und nicht anders lernen konnten. Sie hatten keine anderen Lernmodelle. Insofern erklärt sich auch ein hohes Gewaltpotential untereinander. Aber vorrangig waren es tatsächlich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Einrichtungen und Diensten, die Gewalt angewendet haben.

domradio.de: Jetzt beschäftigen Sie sich mit dieser schmerzlichen Erinnerungsarbeit. Warum ?

Hinz: Es ist wichtig, die Geschichte anzuschauen und aus der Geschichte zu lernen, zu verstehen, welche Art und Formen der Strukturen dazu beigetragen haben, dass Menschen so etwas erleben mussten - auch wenn sich heute die Rahmenbedingungen zutiefst verändert haben.

Es gibt heutzutage schon rechtlich ganz andere Voraussetzungen. Der Schutz des einzelnen Menschen steht jetzt sehr viel mehr im Vordergrund. Die Gesellschaft betrachtet es auch inzwischen ganz anders und sehr viel interessierter, wie Menschen mit Behinderung leben. Es ist gleichwohl immer noch in jeder institutionellen Form der Unterstützung wichtig, genau hinzuschauen, wo sich gewaltermöglichende Formen der Struktur aufbauen könnten. Deshalb ist es uns wichtig, aus der Geschichte zu lernen, um zu vermeiden, dass sich in Einrichtungen der Caritas ähnliches wiederholt.

domradio.de: Die Ergebnisse haben Sie in einem Buch zusammengestellt. Das kann man beim Lambertus Verlag bestellen. Es gibt zwei Exemplare: ein normales und eines in "leichter Sprache". Was bedeutet das?

Hinz: Das schwer in der "Wissenschaftssprache" formulierte Buch wurde in die sogenannte "leichte Sprache" übersetzt. Das ist die Sprache, die Menschen mit Behinderung häufig sehr gut verstehen. Aber es können auch alle anderen Menschen sehr gut verstehen, die eine leicht verständliche Sprache schätzen. Die werden mit der Zusammenfassung der Studie sehr gut bedient sein, weil sie die wesentlichen Ergebnisse der Studie in einer sehr verständlichen Weise zugänglich machen. Das war uns wichtig, damit die Menschen selbst, die auch heute noch davon betroffen sind, darüber informiert werden.

Das Interview führte Silvia Ochlast.


Quelle:
DR