Bundesweit wachsendes Interesse an gregorianischen Chorälen

"Edelstein der Kirchenmusik"

Gregorianische Musik, die lange Zeit als leicht verstaubtes Steckenpferd kirchlicher Musikexperten galt, hat in den letzten Jahren ein breites Publikum für sich gewonnen. Früher seien die Leute ins Kloster gekommen, um im Gottesdienst gregorianische Choräle anzuhören, erzählt Schwester Edith aus Freiburg, die seit 47 Jahren die Tracht der Benediktinerinnen trägt. "Aber seit kurzem wollen immer mehr selber singen lernen."

 (DR)

Gemeinsam mit ihrer jungen Mitschwester Jeremia hat sie eine Choralschola gegründet, einen Chor, in dem Anfänger die altehrwürdigen mittelalterlichen Lieder erlernen.
Beide Schwestern nehmen noch bis Sonntag an einem "Internationalen Sommerkurs Gregorianik 2007" an der Folkwang Hochschule Essen teil, zusammen mit rund 60 Gregorianik-Liebhabern aus aller Welt. Die Herkunftsländer der Kursteilnehmerinnen und Teilnehmer reichen von Japan und Süd-Korea über Israel und Tschechien bis nach Italien oder Holland. Darunter Kirchenmusiker, Musikwissenschaftler, Ordensleute und Theologen, aber auch versierte Chormitglieder und Studierende.

Die Renaissance der Gregorianik ist ein weltweites Phänomen und hat Profis und Laien gleichermaßen erfasst. Das zeigt auch die wachsende Zahl an Musik-CDs, Konzerten oder Internetseiten.

Für Folkwang-Professor Stefan Klöckner hängt diese Entwicklung nicht nur mit einer neuen Religiosität zusammen, sondern vor allem mit der schnelllebigen Alltagswelt. "Es gibt eine große Sehnsucht nach Ruhe, Spiritualität und Besinnung. Wenn man zum Beispiel nur das Wort 'Misericordia' singt, Erbarmen Gottes, dann verblasst aller Lärm. Das ist wie eine Spülung für die Ohren", beschreibt Klöckner die meditativen Erfahrungen. Der katholische Geistliche ist Inhaber des einzigen vollzeitlichen Lehrstuhls für Gregorianik und Liturgik in Deutschland an der Folkwang Hochschule Essen.

Er selbst ist hier in den 80er Jahren während seines Studiums zum Gregorianik-Fan und späteren Experten geworden. Seit 2002 führt der lebhafte, kommunikationsfreudige 48-Jährige jetzt die Initiative seines Amtsvorgängers Godehard Joppich fort und hat in diesem Jahr die 6. Internationale Sommerakademie organisiert. Neben kleinen Workshops zählen Fachvorträge und Konzerte zum Programm, das ausdrücklich allen Interessierten offen steht, nicht nur dem Fachpublikum. "Der gregorianische Gesang ist eine Form des Gebets", sagt Klöckner. "Viele sind fasziniert von der Ausstrahlung dieser Klangwelt und lernen darüber selber wieder beten."

Ähnliche Erfahrungen hat auch der Opernsänger Alwin Kölblinger gemacht, der kirchlich engagiert ist und den Kurs aus persönlichem Interesse belegt hat. "Für mich ist Gregorianik eine Grundlage unserer Kultur, aber im Gesangsstudium kam sie kaum vor", berichtet der 40-Jährige aus Oldenburg. In einem neu gegründeten Mädchenchor gibt er diese mittelalterlichen Traditionen jetzt weiter. Obwohl die
12- bis 17-Jährigen ansonsten völlig andere Musik hören, seien sie "total begeistert" und hätten viel Spaß daran, gregorianisch zu singen.

Ein Gesang allerdings, der erlernt und erlebt werden muss, um seine Wirkung zu entfalten. So wie er das seit den Anfängen in den Klöstern des 8. und 9. Jahrhunderts getan hat. Seitdem ist der Kern des Repertoires, das zunächst mündlich überliefert wurde, kaum verändert: Es wird a capella, unbegleitet, und Lateinisch gesungen. "Gregorianik ist eine große Kunst und ein Edelstein der Kirchenmusik", urteilt Stephan Vogel, Leiter der Bischöflichen Kirchenmusikschule Essen und Dozent der Sommerakademie. "Ich habe spannende Berufungsgeschichten bei jungen Leuten erlebt, die überhaupt nicht kirchlich sozialisiert waren."

Katholisch oder evangelisch, diese Unterscheidung spielt auch bei dem offensichtlich zeitlos aktuellen gregorianischen Gesang keine Rolle. "Beide Kirchen schätzen ihn", betont Stefan Klöckner. Weil Gregorianik schon vor der Kirchenspaltung entstand, sei sie überkonfessionell. Auch der Reformator Luther, ein ehemaliger Mönch, habe diese Musik geliebt.
Die Übernahme gregorianischer Klänge in der modernen Rock- und Popmusik dagegen gefällt dem Fachmann weniger. "Da geht es meistens nur um den mystischen Sound und ein wenig Pseudo-Latein", meint er.

Anders dagegen die meditativen Gesänge der Kommunität von Taizé, die sich in den letzten Jahrzehnten weltweit verbreitet haben. Hier wird für Klöckner die Ökumene musikalisch greifbar: "Taize und gregorianischer Gesang bereichern sich gegenseitig, das sind beides wunderbare Arten des Gebets."