Bundesweit erste Ausgabestelle für koschere Lebensmittel in Berlin

"Jeder ist willkommen"

Volle Taschen bei einer Armenspeisung in Berlin: wer wenig hat, greift gerne zu. Doch hier kommen keine gewöhnlichen Lebensmittel in die Tüte: Alles ist koscher. Die jüdische Gemeinde Lev Tov hat jetzt diese bundesweit einzigartige Aktion gestartet - speziell für bedürftige Juden.

Autor/in:
Julia Grimminger
 (DR)

Schüchtern nimmt sich Ludmila eine Plastiktüte. "Es ist mir peinlich, wissen Sie!", sagt die 53-Jährige, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte, und greift sich zwei Äpfel. Zum zweiten Mal ist sie der Einladung der Charlottenburger Synagoge "Lev Tov" gefolgt. Das spricht sich herum, und so kommen jede Woche mehr Menschen zur Initiative "Schulchan Aruch", was auf deutsch "Gedeckter Tisch" heißt, und bessern so ihre bescheidene Haushaltskasse auf.

Ludmila kam vor 15 Jahren aus dem Kaukasus nach Deutschland. "Sehr wenig Geld" bleibe ihr und ihrem Mann, der schwerbehindert ist, erzählt sie. Ihr Mann ist Jude, sie selbst Christin. Dass die Leute hier so freundlich seien, mache es für sie einfacher, zu kommen. "Und alles ist so frisch", sagt sie und legt sich "Challah" in die Tüte - das ist traditionelles jüdisches Brot aus Hefeteig, das häufig am Sabbat gegessen wird.

Koschere Putenschnitzel und Wurst, Milch, Kartoffeln, Paprika und Süßigkeiten werden nach und nach in den Taschen verstaut. Siegfried Jarosch ist Gründungsmitglied der Synagoge und hat die Organisation übernommen. Zunächst hieß das Projekt "Jüdische Tafel". Nach einer Intervention der bundesweiten Tafel-Bewegung, die bestimmte Bedingungen an die Verwendung ihres Namens knüpft, benannte sich die Einrichtung um.

"Heute merke ich den Bedarf"
An diesem Donnerstag rechnet Jarosch mit rund 30 Menschen. Zunächst sei er sich nicht sicher gewesen, ob der "Gedeckte Tisch" auf Zuspruch stößt. Zur ersten Ausgabe kamen auch nur drei Kunden. Das änderte sich schnell. "Heute merke ich den Bedarf", so Jarosch. Er ist froh darüber, dass er und einige Helfer die Idee des Rabbiners der Gemeinde, Chaim Rozwaski, umsetzten.

"Jeder ist willkommen", betont Jarosch. Dass es vielen schwer fällt, sich helfen zu lassen, ist ihm bewusst. Deshalb animiert er zum Mitmachen: Jeder könne beim Auf-, Abbauen oder Auslegen der gespendeten Waren helfen. Es sei ein "anderes Nehmen, wenn ich etwas geben kann", sagt der kräftige Mann, der ansonsten als Immobilienmakler arbeitet. Die Waren werden entweder zur Verfügung gestellt oder von Geldspenden gekauft. Rund 16.000 Juden leben in Berlin, schätzt die Sprecherin der jüdischen Gemeinde in der Hauptstadt, Maya Zehden.

Die Basis einer koscheren Ernährung klingt einfach: "Du sollst das Böcklein nicht in der Milch seiner Mutter bereiten", steht in der Tora. Deshalb sollen Fleisch und Milch nicht zusammen gegessen werden. Die Umsetzung in der Praxis ist dagegen häufig kompliziert - und teuer. Häufig sei es aufwendig, koscheres, "reines" Fleisch, das auf spezielle Art geschlachtet wird, aber auch andere Lebensmittel zu bekommen, erklärt Jarosch.

"Es ist eine gewisse Erniedrigung"
Dass die jüdischen Speisegesetze sehr kostspielig sind, findet auch Sofia Steingold. Durch einen Ein-Euro-Job bleiben der jungen Publizistin nach allen Abzügen 100 Euro im Monat zur eigenen Verfügung. Mit den Lebensmitteln des "Gedeckten Tischs" könne sie sich mit ihrer Familie an die Tradition halten. Doch es kostet sie jedes Mal Überwindung, nach Charlottenburg zu kommen, erzählt sie. "Es ist eine gewisse Erniedrigung". Aber zumindest an den Feiertagen will sie mit ihrer Familie streng koscher essen. Das Projekt hält sie für wichtig, um "die jüdische Tradition weiter aufleben zu lassen".

So liegt es im Interesse einiger Gemeindemitglieder, zunächst den Bedarf in den eigenen Reihen zu decken. Jarosch bleibt allerdings dabei: Alle seien willkommen. "Wenn Menschen Hunger haben, sollen sie speisen". Er freut sich: "Ich sehe in vielen Augen ein Dankeschön". Während er aus einer Gulaschkanone eine kräftige Brühe mit Reisnudeln an die Gäste verteilt, fällt ihm auf, wie sich eine junge Frau kurz vor dem Eingang wieder umdreht. "Hol' sie zurück, Grischa", ruft er einem jungen Helfer zu.