Bundesverfassungsrichter nimmt religiöse Themen ins Visier

Kleiderordnung und Feiertagsschutz

Bundesverfassungsrichter Wilhelm Schluckebier scheidet nach mehr als elf Jahren aus Altersgründen aus seinem Amt aus. Im Interview zieht er Bilanz und äußert sich unter anderem zum Feiertagsschutz und religiösen Kleidungsvorschriften.

Die Robe im Bundesverfassungsgericht / © Uli Deck (dpa)
Die Robe im Bundesverfassungsgericht / © Uli Deck ( dpa )

KNA: Sie waren 2009 Berichterstatter im Verfahren zum Berliner Ladenöffnungsgesetz. Ist das Thema Sonn- und Feiertagsschutz mit dieser Entscheidung weitestgehend erledigt?

Wilhelm Schluckebier (Bundesverfassungsrichter): Der Senat hat damals die Frage des Sonntagsschutzes grundsätzlich entschieden. Er hat die synchron getakteten Feiertage als verfassungsverankertes Grundelement des Zusammenlebens und der staatlichen Ordnung definiert. Damit ist die Frage nach der Reichweite des verfassungsrechtlichen Sonntagsschutzes für den Einzelhandel in den Grundlagen beantwortet. Fest steht danach auch, dass es vom Sonntagsschutz Ausnahmen geben muss, etwa im Freizeit- oder Industriebereich, wo Sonntagsarbeit notwendig ist, um rentabel Arbeitsplätze erhalten zu können und anderen die sonntägliche Erholung zu ermöglichen. Die typische werktägliche Geschäftigkeit hat allerdings zu ruhen, für Ausnahmen sind wichtige Sachgründe erforderlich – dazu gehören weder Shopping- noch Umsatzinteressen.

Gleichzeitig ist eine gewisse Zahl von Ausnahmen auch für die Ladenöffnung respektiert. Als Folge der Entscheidung haben die Verwaltungsgerichte viele Sonntagsöffnungsbegehren des Einzelhandels abgelehnt. Wie schon 1919, als der entsprechende, in das Grundgesetz überführte Feiertagsschutz-Artikel der Weimarer Reichsverfassung entstand, gibt es bis heute eine motivische Allianz zwischen Gewerkschaften und Kirchen, um die Sonn- und Feiertage und die Arbeitsruhe zu schützen.

KNA: Ganz aktuell gibt es Streit über die Frage, ob an Heiligabend Geschäfte offen haben dürfen, wenn der 24. Dezember auf einen Sonntag fällt.

Schluckebier: Nach meiner Kenntnis gab es dazu bislang noch kein Verfassungsbeschwerdeverfahren. Ein solcher Fall könnte sicher interessant sein. Eine Bewertung möchte ich dazu nicht abgeben.

KNA: Ein anderes von Ihnen mitentschiedenes Verfahren bezog sich auf das Tanzverbot an Karfreitag. Es kann der Eindruck entstehen, dass der Sinngehalt kirchlicher Feiertage zunehmend in Vergessenheit gerät. Teilen sie diesen Eindruck?

Schluckebier: Aus verfassungsrechtlicher Sicht: nein. Im Unterschied zu unseren Nachbarstaaten hat Deutschland den Schutz der Sonn- und Feiertage im Grundgesetz geregelt. Das ist etwas Besonderes.

Und was den Karfreitag angeht: Die Bundesländer haben traditionell den besonderen, intensivierten Schutz festgelegt. Diesen Ruheschutz hat der Erste Senat so akzeptiert. Zugleich muss es Befreiungsmöglichkeiten geben. Von diesen ist in bestimmten Fällen Gebrauch zu machen, etwa weil die Bekenntnisfreiheit auch areligiösen Weltanschauungsgemeinschaften einen Schutz ihrer Veranstaltungen gewährleistet oder weil die ebenfalls grundrechtlich garantierte Versammlungsfreiheit betroffen ist. Voraussetzung ist aber immer, dass der äußere Ruherahmen des Tages gewahrt bleibt. Öffentliche Tanzvergnügen können also weiter untersagt werden, eben weil das in der Grundanlage so in unserer Verfassung verankert ist, und solange die Feiertagsgesetzgeber, also die Länder, es so wollen.

KNA: Diskutiert wird auch über die Einführung eines muslimischen Feiertags. Stünde dem aus verfassungsrechtlichen Gründen etwas im Wege?

Schluckebier: Vom Ansatz her nicht, die Entscheidung liegt bei den Landesgesetzgebern. Ohne jede verfassungsrechtliche Bewertung: In Bayern zum Beispiel gibt es das Modell regional begrenzter Feiertage, die sich an der konfessionellen Stärke der Bevölkerung ausrichten.

Ein Gesetzgeber muss einschätzen, wann zum Beispiel nach solchen Kriterien ein Feiertag eingerichtet werden sollte, der dann ja für alle gelten würde, bezogen auf ihre Frage also: auch für alle Nichtmuslime. Das ist eine spannende Frage.

Aber es gibt auch ohne die Schaffung eines Feiertags Möglichkeiten, religiösen Bedürfnissen Rechnung zu tragen: So können im Arbeits- oder Schulrecht Befreiungsmöglichkeiten und Freistellungsansprüche festgeschrieben werden.

KNA: Nicht zur Ruhe kommt die Diskussion über religiös begründete Kleidungsvorschriften.

Schluckebier: Der Senat hat 2015 im Fall einer Lehrerin das Tragen eines in typischer Weise gebundenen sogenannten islamischen Kopftuchs aus religiösen Motiven dem Grundrechtsschutz unterstellt: Das Kopftuch ist demnach nur das individuelle Kleidungsstück der Lehrerin und nicht dem Staat zuzurechnen. Das Tragen kann der Lehrerin deshalb nicht generell untersagt werden, sondern nur dann, wenn eine konkrete Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität entsteht.

Es liegt nahe, dass künftig ähnliche Verfahren nach Karlsruhe kommen werden. Da dürfte es darum gehen, ob es – verglichen mit dem Fall der Lehrerin – einen qualitativen Unterschied macht, wenn ein Rechtsreferendarin, eine Staatsanwältin oder eine Richterin ein Kopftuch trägt.

KNA: In Baden-Württemberg ging es um den Fall eines Sikhs, der aus religiösen Gründen ohne Helm Motorrad fahren will.

Schluckebier: Auch dieser Fall kann das Bundesverfassungsgericht erreichen. Der Verwaltungsgerichtshof ist dem Antragsteller nicht gefolgt. Er hat betont, dass als Gegenpart zur Glaubens- und Bekenntnisfreiheit auch der ebenfalls in der Verfassung verankerte Gesundheitsschutz Dritter eine hier überwiegende Rolle spielt.

KNA: Das Thema religiöse Bekleidungsvorschriften scheint für viele einen starken emotionalen Charakter zu haben.

Schluckebier: Das ist richtig, Fragen der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit sind oft stark mit Gefühlen besetzt.

KNA: Die grundgesetzlichen Regelungen zum Staat-Kirche-Verhältnis entstammen der Weimarer Verfassung. Sehen Sie heute einen Anpassungsbedarf?

Schluckebier: Der Kompromiss zum Religionsverfassungsrecht von damals hat sich im Großen und Ganzen bis heute immer wieder bewährt. Die Prinzipien sind einfach: Wir haben keine Staatskirche, es gilt für den Staat der Grundsatz der wohlwollenden und fördernden Neutralität.

Klar ist aber auch: Jede Identifizierung des Staates mit einer bestimmten Religionsgemeinschaft und jede Privilegierung ist grundsätzlich untersagt. Der Staat macht den Religionsgemeinschaften aber das großartige Angebot, den Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts zu erlangen. Das führt dann auch zu einer stärkeren Anbindung an die Rechts- und Verfassungsordnung. Und er schafft – eben fördernd – den Raum für religiöse Betätigung.

Manche streben beim Staat-Kirche-Verhältnis eine Verfassungsänderung an. Dafür sehe ich in absehbarer Zeit aber nicht die erforderliche Zweidrittel-Mehrheit. Unerfüllt ist der Verfassungsauftrag von Weimar, die Staatsleistungen an die Kirchen abzulösen. Wie ich die Diskussion einschätze, wären die Kirchen dem nicht abgeneigt, sehen aber die Initiative dazu beim Staat.

Einige kritische Stimmen stellen auch die Einziehung der Kirchensteuer durch den Staat und die staatliche Mitfinanzierung von Leistungen kirchlicher Träger wie Caritas und Diakonie in Frage, die diese im sozialen Bereich für die Gemeinschaft aller Bürgerinnen und Bürger erbringen. Solche Debatten wird es sicher auch in Zukunft geben, und die Kirchen sollten diese Diskussion offensiv aufgreifen und Aufklärungsarbeit leisten: Etwa, dass der Staat für die Verwaltungsleistung der Erhebung der Kirchensteuer von den Kirchen Geld erhält, drei Prozent des Aufkommens. Auch bei der teilweisen staatlichen Mitfinanzierung karitativer Einrichtungen, die der Gemeinschaft dienen, ist vieles gut erklärbar.

KNA: Sie sprachen vom Körperschaftsstatus. Vom muslimischen Selbstverständnis her ist es zweifelhaft, ob solche Strukturen überhaupt erwünscht sind. Ist das deren Problem, oder muss das Religionsverfassungsrecht so geändert werden, dass es auch für Muslime passt?

Schluckebier: 2014 hat der Deutsche Juristentag in Hannover eigenständige Organisationsformen unterhalb des Körperschaftsstatus mit großer Mehrheit abgelehnt. Derzeit ist es so, dass die Alternative für die muslimischen Religionsgemeinschaften im Vereinsrecht besteht. Viele Moschee-Vereine leisten innerhalb dieses Rahmens sehr viel. Als Staatsbürger sage ich: Es braucht Zeit, damit Dinge wachsen können. Vielleicht können die Kirchen bei solchen Fragestellungen auch mehr Rat und Tat anbieten. Ganz grundsätzlich:

Es geht beim Körperschaftsstatus um ein Angebot unserer Rechts- und Verfassungsordnung. Das erfordert aber auch die Erfüllung bestimmter Voraussetzungen. Daran sollten wir festhalten. Vereinsrechtliche Strukturen oder auch andere Rechtsformen bieten genügend bedarfsgerechte Alternativen.

KNA: Der Dritte Weg, das kirchliche Arbeitsrecht, ist zuletzt durch europäische Urteile unter Druck geraten. Wie wird es weitergehen?

Schluckebier: Schwer zu sagen. Aber: Das Unionsrecht belässt Freiräume für nationale Besonderheiten. Ich sehe allerdings auch eine erhebliche Verantwortung der Kirchen und ihrer karitativen Einrichtungen. Wenn dort in den Einrichtungen zu stark betriebswirtschaftliche Aspekte bestimmend werden und – um einen Punkt herauszugreifen - oft Zeitarbeitsfirmen gebraucht werden, um bei der personellen Besetzung einigermaßen über die Runden zu kommen und eine zugewandte, fürsorgliche Betreuung der anvertrauten Menschen sicherzustellen und beispielhaft vorzuleben, dann kann es schwer werden, glaubwürdig zu vermitteln, dass sich der kirchliche Sendungsauftrag im Alltag widerspiegelt.

Das Interview führte Michael Jacquemain.


Wilhelm Schluckebier / © Wolfgang Radtke (KNA)
Wilhelm Schluckebier / © Wolfgang Radtke ( KNA )
Quelle:
KNA