Nächstenliebe ist kein Allheilmittel. Sie ist kein Lächeln über Risse oder ein Verbergen von Schmerz. Lange Zeit hat man es so gehandhabt – in der Kirche, in der Politik, in Familien. Das Ergebnis kennen wir nur zu gut. Werke wie "Leben einer Nonne" und "Der Name der Rose" zeigen die dunkle Seite des Christentums.
Wahre Nächstenliebe besteht aus drei untrennbaren Elementen: Liebe, Wahrheit und Gerechtigkeit. Liebe ohne Wahrheit verfehlt den Nächsten. Liebe ohne Gerechtigkeit bevorzugt oder benachteiligt. Liebe, die den Wert des anderen nicht anerkennt, wird zu sentimentaler Inszenierung.
Nächstenliebe bedeutet: Augen öffnen, Grenzen erkennen, Verantwortung übernehmen. Niemandem mehr aufbürden, als er tragen kann – weder einem Land noch einer Person, auch nicht sich selbst.
Mit christlicher Nächstenliebe können wir jedes politische Problem lösen. Sie bewahrt vor Selbstsucht, ehrt die Möglichkeiten und erkennt die Grenzen des Handelns an. Falsch verstandene Nächstenliebe hingegen löst kein Problem. Wer nicht ehrlich diskutiert und nicht erkennt, dass niemand, auch keine Nation, mehr tun muss, als sie kann, überfordert – am liebsten die anderen.
Die Politik ist eine Folge von Nächstenliebe. Sie verweigert sich dem Egoismus, sucht den möglichen Weg, kann Ja und Nein sagen. Sie will nicht jedem gefallen, aber jedem dienen.
Bruder Paulus Terwitte OFMCap ist Guardian des Kapuzinerklosters Münster.