Brailleschrift wird in Deutschland selten angewendet

"Einkaufen im Supermarkt ist für Blinde die Hölle"

Was steht da im Supermarkt-Regal? Inklusion für Blinde findet bei der Produktentwicklung kaum statt, kritisiert Experte Thomas Kahlisch. Dabei gibt es seit rund 200 Jahren mit der Brailleschrift eine geniale Erfindung.

Autor/in:
Magdalena Thiele
Brailleschrift / © Julia Steinbrecht (KNA)
Brailleschrift / © Julia Steinbrecht ( KNA )

Auch wenn sie landläufig kaum als Grundnahrungsmittel durchgehen würden, machen diese Kir-Royal-Trüffel etwas Grundsätzliches deutlich. Das Berliner Pralinenlabel Sawade ist das erste deutsche Unternehmen, das auf alle Verpackungen seiner süßen Alltagsfreuden auch Brailleschrift druckt - die simple, aber geniale Kombination aus sechs erhabenen Punkten. Der Welt-Braille-Tag am Donnerstag - am 4. Januar wurde ihr Erfinder geboren - erinnert an die zentrale Bedeutung dieser Schrift.

Brailleschrift / © Julia Steinbrecht (KNA)
Brailleschrift / © Julia Steinbrecht ( KNA )

Schlüssel zur Bildung

Die rund 200 Jahre alte Erfindung von Louis Braille sei für alle blinden und sehbehinderten Menschen der Schlüssel zur Bildung gewesen, sagt Thomas Kahlisch. Er ist Präsidiumsmitglied des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes und selbst im Alter von 14 Jahren erblindet. "Ungefähr zwei Jahre hat es gedauert, bis
ich das Punktschreiben erlernt hatte", erinnert sich der heute 60-Jährige. "Aber ich wollte unbedingt studieren."

Lesen ist heute in der westlichen Welt auch für Menschen mit Sehbehinderung selbstverständlich. Vor allem in öffentlichen Einrichtungen oder in Bus und Bahn gibt es häufiger entsprechende Beschriftungen. Allerdings finden sich im Alltag von Sehbehinderten immer noch unnötig viele blinde Flecke. Kahlisch: "Es wäre toll, wenn auf der Pizza-Schachtel stünde, ob es eine Funghi oder eine Gorgonzola ist. Das wäre ein kleiner Luxus, der ohne größeren Aufwand umgesetzt werden könnte."

Blinde sind zu kleine Käufergruppe

Allerdings verzichteten die meisten Lebensmittelhersteller darauf, mit Blindenschrift zu arbeiten. Warum? "Es gibt weder eine gesetzliche Regelung, die ihnen das vorschreibt, noch einen wirtschaftlichen Anreiz", sagt Kahlisch. "Blinde sind einfach eine zu kleine Käufergruppe." Offiziell redeten sich die Unternehmen aber mit hohem Mehraufwand bei der Produktion raus.

Dabei entstünden meistens keine zusätzlichen Kosten, wenn Inklusion von Anfang an mitgedacht werde, betont Steffen Zimmermann. Der Berliner ist Experte für Barrierefreiheit und berät Einrichtungen und Unternehmen im Bereich Produktentwicklung. "Wir können Brailleschrift unkompliziert fast überall integrieren", sagt Zimmermann: "Egal, ob seriell gefertigtes Industrieprodukt oder Einzelstück. Das ist ein ästhetischer Gewinn und gleichzeitig ein Verkaufsvorteil." Denn barrierefreie Produkte und Einrichtungen seien nicht nur für Blinde, sondern auch für jenes Fünftel der Marktteilnehmer besser nutzbar, die von einer ausgeprägten Sehschwäche betroffen sind.

Brailleschrift in einer Straßenbahn / © Julia Steinbrecht (KNA)
Brailleschrift in einer Straßenbahn / © Julia Steinbrecht ( KNA )

Im europäischen Vergleich belegt Deutschland bei Inklusion letzten Platz

Dennoch sucht man Brailleschrift an den meisten Orten vergebens. "Wir werden in Deutschland nie mit Blinden konfrontiert, weil Inklusion de facto noch nicht stattfindet", kritisiert Zimmermann. "Im europäischen Vergleich belegt Deutschland bei der Inklusion seit langem einen traurigen letzten Platz." Einkaufen in Supermärkten sei hierzulande für Blinde "die Hölle", sagt der Experte: "Das können sie niemandem zumuten."

Das Smartphone sei zwar im Alltag eine große Hilfe. Allerdings seien Produktscanner-Apps beim Einkauf in der Masse der Produkte noch längst nicht praxistauglich und nicht für alle blinden Konsumenten eine gangbare Lösung.

Außerdem sei es wichtig für das Selbstwertgefühl, nicht von der Technik abhängig zu sein, berichtet Thomas Kahlisch aus eigener Erfahrung. Zudem schaffe Technik an mancher Stelle auch neue Barrieren: Apps, die nur grafisch arbeiten, schließen zum Beispiel blinde Menschen von der Nutzung aus - gerade für junge Leute könne
das zum Problem werden. 

Brailleschrift ist anpassungsfähig

Die Braille-Schrift selbst dagegen ist mit ihrem Punktesystem erstaunlich anpassungsfähig. Wenn eine Neuerung hinzukommt, wird eine weitere Punktkombination hinzugefügt. Acht Punkte sind nötig, um alle Sonderzeichen einer Computertastatur abbilden zu können. Möglich ist alles; die Brailleschrift ist wandelbar wie die dazugehörige Sprache. So sei das Gendern nicht problematisch für Menschen, die in Blindenschrift lesen. "Es wäre aber erheblich einfacher, wenn man sich auf eine Schreibweise verständigen könnte und nicht verschiedene Sonderzeichen und Schreibweisen bemühen müsste", sagt Kahlisch. Er schmunzelt: "Wir haben dann für alles die passenden Punkte."

Brailleschrift

Wie die Brailleschrift funktioniert, erklärt der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband auf seiner Homepage: 

Eine Frau liest ein Buch in Brailleschrift / © Africa Studio (shutterstock)
Eine Frau liest ein Buch in Brailleschrift / © Africa Studio ( shutterstock )
Quelle:
KNA