"Boko Haram"-Anschläge reißen nicht ab

"Solidarität wie in Frankreich wünschenswert"

Bis zu 2.000 Menschen sollen bei Anschlägen der islamistischen Terrorgruppe "Boko Haram" in den vergangenen Tagen in Nigeria getötet worden sein. Ein Ende der Gewaltspirale fordert Berthold Pelster von "Kirche in Not" im Interview.

Anschlag in Nigeria (dpa)
Anschlag in Nigeria / ( dpa )

DOMRADIO.DE: Man hat das Gefühl, es wird immer blutiger in Nigeria. Ist die Lage 2015 noch einmal eskaliert?

Berthold Pelster (Menschenrechtsexperte für das katholische Hilfswerk Kirche in Not): Es scheint so, dass sich der Terrorismus der Gruppe "Boko Haram" immer weiter ausbreitet - fast wie ein bösartiges Krebsgeschwür mit immer neuen Wucherungen. Ein unkontrolliertes Wachstum, gegen das es bisher kein wirksames Gegenmittel gibt.

DOMRADIO.DE: Besonders erschütternd ist, dass es immer häufiger junge Mädchen sind, die mit einem Sprengstoffgürtel ausgerüstet zu Selbstmordattentätern werden. Warum sucht sich "Boko Haram" denn gerade Kinder aus?

Pelster: Die Spirale der Gewalt dreht sich immer schneller, die Gewalt wird immer abscheulicher. Jetzt werden sogar junge Mädchen eingesetzt, mit Sprengstoffgürteln ausgestattet und auf belebte Märkte geschickt. Dann wird wahrscheinlich der Sprengstoff ferngezündet. 

Das heißt, die kleinen Mädchen wissen vielleicht gar nicht, was ihnen da droht. Das ist eine absolut pervertierte Form einer zum Teil religiös begründeten Ideologie. Das ist absolut entsetzlich, was wir dort beobachten.

DOMRADIO.DE: Wir haben in den letzten Monaten viel von den Terroristen des Islamischen Staates gehört, die in vielen Ländern, vor allem aber im Irak und Syrien unterwegs sind. Wir haben jetzt verstärkt über Al-Qaida nach den Anschlägen von Paris berichtet. Gehört "Boko Haram" in diese Reihe auch hinein?

Pelster: Es gibt Parallelen. Auch "Boko Haram" erobert immer weitere Gebiete, macht Geländegewinne, erobert Siedlungen, Dörfer, Städte, brennt ganze Siedlungen nieder. 

"Boko Haram" hat im August des vergangenen Jahres ein islamisches Kalifat ausgerufen und man muss davon ausgehen, dass es auch Verbindungen gibt, etwa nach Libyen oder Somalia zu verschiedenen Terrorgruppen. Möglicherweise auch hinein bis in den Nahen Osten. Da gibt es mit Sicherheit intensive Beziehungen.

DOMRADIO.DE: Mitte Februar finden Präsidentschaftswahlen statt. Ist die Politik machtlos gegenüber "Boko Haram"? Oder ist es ihr in Teilen egal, was im Norden des Landes geschieht?

Pelster: Zum Teil sind sicherlich auch Intrigen im Gange. Es gibt immer wieder Gerüchte, dass zum Beispiel das Militär auch teilweise unterwandert sei von Sympathisanten von "Boko Haram". Auch unter manchen islamischen Politikern gibt es Sympathien für die Bestrebungen und Ziele von "Boko Haram". 

Andere missbrauchen die Terrorbewegung einfach dazu, Unruhe zu stiften, um die Parlamentswahl vielleicht unmöglich zu machen und eigene politische Ziele zu verfolgen. Das ist alles sehr, sehr undurchsichtig und verworren.

DOMRADIO.DE: Welche Perspektive sehen Sie für Nigeria? Wie wird sich das wahrscheinlich in den kommenden Wochen und Monaten entwickeln?

Pelster: Ich fürchte, dass das Jahr 2015 für Nigeria nicht besser ausfallen wird als das Jahr 2014 und die Gewalt weiter anhalten oder sich sogar ausweiten wird. Es gibt bisher kein wirksames Gegenmittel.

DOMRADIO.DE: Könnte nicht ein Gegenmittel aus Europa oder den westlichen Ländern kommen? Müsste nicht auch eingeschritten werden, so wie man das im Norden des Irak gegen den Islamischen Staat auch versucht hat?

Pelster: Die USA haben es ja zum Beispiel versucht, indem sie die Regierungstruppen in Nigeria finanziell und auch beratend unterstützt haben. Aber die USA haben jetzt ihre Finanzmittel drastisch eingeschränkt, weil sie nicht wissen, mit wem sie genau im Militär zusammenarbeiten sollen, weil das Militär zum Teil unterwandert ist oder offensichtlich unfähig oder unwillig ist, energisch genug gegen "Boko Haram" vorzugehen. 

Die Nigerianer sind selber ratlos und die internationale Staatengemeinschaft ist auch ein wenig hilflos, weil die Situation so verworren ist und man nicht genau weiß, wie und wo man ansetzen muss.

DOMRADIO.DE: Man lässt also die Christen alleine gegenüber der Gewalt?

Pelster: Gefragt ist nach wie vor die Solidarität. Ein Hilfswerk wie "Kirche in Not" bemüht sich natürlich darum, den Christen zur Seite zu stehen und Schäden, die angerichtet worden sind, wieder zu beheben oder die Hinterbliebenen von getöteten Christen humanitär zu versorgen. Das ist nur ein kleiner Tropfen auf den heißen Stein. 

Natürlich muss auch die Politik nach wie vor bestrebt sein, diese Gewalt einzudämmen. Aber da muss noch viel mehr Entschlossenheit aufkommen. Die Ereignisse in Frankreich haben jetzt gezeigt, dass Millionen Menschen auf die Straße gehen können. Etwas Vergleichbares würde man sich natürlich auch in solchen Fällen, wo es zu Anschlägen in Nigeria kommt, wünschen. 

Der Erzbischof Ignatius Kaigama hat vor wenigen Tagen dazu aufgerufen, dass auch die Menschen in Nigeria auf die Straße gehen und dass die Zivilgesellschaft sich klar und deutlich gegen den Terror äußert, damit mehr Solidarität aufkommt.

Das Interview führte Matthias Friebe.

Boko Haram

Die islamistische Gruppierung Jama'atu Ahlis Sunna Lidda'awati wal-Jihad ist besser bekannt als "Boko Haram". Sie entstand 2002 in Maiduguri, der Hauptstadt des Bundesstaates Borno im Norden Nigerias. Übersetzt bedeutet der volle Name etwa "Menschen, die sich der Verbreitung der Worte des Propheten und dem Dschihad verpflichtet fühlen". Ihr lokaler Name Boko Haram stammt aus der Sprache Haussa, der größten Verkehrssprache im Norden Nigerias, und heißt so viel wie "westliche Bildung ist Sünde".

Nigerias Armee kämpft gegen Boko Haram (dpa)
Nigerias Armee kämpft gegen Boko Haram / ( dpa )
Quelle:
DR