Bochumer Historiker legen Zwischenbericht zu Heimkindern vor

"Ihr seid Höllenkinder"

Seit dem 19. Jahrhundert war die Heimerziehung ein Markenzeichen der Kirchen in Deutschland. Spätestens seit "Spiegel"-Redakteur Peter Wensierski 2006 sein Buch unter dem Titel "Schläge im Namen des Herrn" veröffentlichte, steht diese hohe Reputation aber auf dem Spiel. Auch die Kirchen wollen Aufklärung: Eine Arbeitsgruppe der Uni Bochum, die das Thema seit 2006 erforscht und seit 2008 dabei finanziell auch von Bischofskonferenz und Evangelischer Kirche unterstützt wird, hat am Dienstag eine erste Zwischenbilanz präsentiert.

Autor/in:
Christoph Arens
 (DR)

"Ihr seid Höllenkinder." Dieses vernichtende Urteil hat Franz Becker (Name geändert) als Kind öfter gehört. Solche Erinnerungen aus seiner Jugend in einem katholischen Kinderheim in Paderborn lassen ihn bis heute nicht los. Demütigungen und harte Strafen: Wie Becker leiden manche der bis zu einer Million Kinder und Jugendlichen, die zwischen 1945 und 1975 in Heimen in Westdeutschland untergebracht waren - davon bis zu 600.000 in konfessionellen Einrichtungen - , unter traumatischen Erinnerungen. Mit dem Alter werden sie vielfach stärker.

Ziel der Kirchenhistoriker ist es einerseits, die Heimerziehung in zeitgeschichtliche Zusammenhänge einzuordnen. Doch Wilhelm Damberg, katholischer Theologieprofessor in Bochum, der mit seinem evangelischen Kollegen Traugott Jähnichen das Projekt leitet, macht zugleich deutlich, dass es nicht darum geht, Missstände zu entschuldigen. "Unser Projekt ermöglicht es den Opfern, mit ihren Einzelschicksalen nicht als Querulanten abgetan, sondern ernst genommen zu werden", sagt er. Die zahlreichen Heimkinder, die den Wissenschaftlern ihre Schicksale beschrieben haben, "haben uns sehr nachdenklich gemacht".

Massive strukturelle Defizite
Damberg und Jähnichen attestieren den kirchlichen Heimen der Nachkriegszeit massive strukturelle Defizite. Die Rede ist beispielsweise von einer "Personalkrise": Die Mitarbeiter der Heime aus Ordensgemeinschaften sowie aus Schwestern- und Brüderschaften waren überaltert, und ihre Zahl nahm wegen eines sich verschärfenden Nachwuchsmangels immer mehr ab. "Weltliche" Kräfte gab es wegen geringer Entlohnung, Schichtdienst und Wohnen in der Einrichtung kaum. Zudem sei ein Großteil des Personals nicht pädagogisch qualifiziert gewesen, konstatiert der Bericht. Erst seit Anfang der 60er Jahre sorgten Fach- und Fachhochschulen für eine zunehmende Ausbildung.

Sehr differenziert geht der Bericht die Frage körperlicher Gewalt an: Jähnichen verweist darauf, dass die Erziehungsziele Ordnung und Disziplin in den 50er Jahren in der Bevölkerung mehr als 80 Prozent Zustimmung hatten, das Ziel Freiheit höchstens 20 Prozent. In vielen Heimen habe es deshalb eine "durch landesgesetzliche Regelungen oder Verordnungen legitimierte Strafpädagogik" gegeben.

Essensentzug, Isolierung, Züchtigung
Darüber hinaus verschweigen die Wissenschaftler aber nicht, dass sie auch eine in ihrem Ausmaß nur schwer feststellbare Menge von nicht erlaubten Bestrafungen und Demütigungen feststellen mussten: Trotz teilweise anderslautender Ordensregeln oder Heimordnungen hätten Kinder unter Essensentzug, Isolierung in sogenannten "Besinnungszimmern", körperlicher Züchtigung und Misshandlungen - "Schläge 'auf die Erziehungsfläche', Ohrfeigen etc" leiden müssen. Inwieweit die konfessionelle Prägung eines Heims strafbegünstigend oder -mildernd gewirkt hat, wollen die Wissenschaftler in "Tiefenbohrungen" am Beispiel einzelner Heime weiter erforschen.

Auch zum vom Verein ehemaliger Heimkinder immer wieder vorgebrachten Vorwurf der Ausbeutung durch Arbeit äußert sich der Bericht: Dass Heimbewohner in der Haus- und Landwirtschaft oder in Werkstätten beschäftigt worden seien, "war normal und juristisch als nicht sozialversicherungspflichtige Mitarbeit abgesichert". Die Arbeit habe einerseits zur Eigenversorgung der Heime beigetragen. Andererseits galt sie auch als wertvolles erzieherisches Mittel, die Kinder und Jugendlichen zu Ordnung, Pünktlichkeit, Verantwortungsbereitschaft und Selbstständigkeit zu erziehen.