Bischof Reinelt über die Ereignisse im Wendeherbst 1989

"Nur die alten Genossen wollen die DDR wiederhaben"

Der Bischof von Dresden-Meißen, Joachim Reinelt, verfolgte die Meldung über die Maueröffnung vor 20 Jahren vor dem Fernseher. Ihm seien dabei die Tränen gekommen, sagte Reinelt, der 1988 die Bischofsweihe empfing, in einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur in Dresden. Er äußerte sich zur Vorgeschichte der friedlichen Revolution und zu seinen Erwartungen danach.

 (DR)

KNA: Herr Bischof Reinelt, wann und wo haben Sie vom Fall der Mauer erfahren?
Reinelt: Ich habe damals die Pressekonferenz mit dem SED-Politbüromitglied Günther Schabowski am Fernseher verfolgt und konnte nicht glauben, dass die Grenze geöffnet werden sollte. Mir kamen die Tränen, das war schon sehr berührend. Mit einem so plötzlichen Ende des SED-Regimes haben wir nicht gerechnet. Kurz zuvor hatte der DDR-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker noch gesagt: «Die Mauer wird auch in 100 Jahren noch stehen.» Zunächst waren wir auch unsicher, ob das alles nur dazu diente, um erst mal Druck abzulassen.

Zwei Tage nach dieser denkwürdigen Pressekonferenz sollte ohnehin eine Wallfahrt nach Wechselburg aus Dankbarkeit dafür stattfinden, dass bei den Demonstrationen auf niemanden geschossen wurde. Plötzlich war die Mauer offen. Die Wallfahrt mit Tausenden von Teilnehmern wurde ein großartiges Fest.

KNA: Welche persönlichen Pläne hatten Sie als Bischof in der DDR, als sich diese Entwicklung noch nicht abzeichnete?
Reinelt: Ich hoffte, als Bischof wenigstens ab und zu die Gelegenheit zu bekommen, nach Rom oder wenigstens nach Polen zu reisen. Tatsächlich hatten die Behörden in der DDR mir damals eine Reise nach Polen gestattet. Ich erinnere mich noch, wie der DDR-Grenzer auf der Rückreise die Genehmigung zu der Reise süffisant zerriss, um mir deutlich zu machen: «Du fährst nie wieder nach Polen.» Die Hoffnung, dass die DDR und der Kommunismus eines Tages zusammenbrechen, hatten wir natürlich immer. Beim täglichen «Engel des Herrn» galt eine Fürbitte immer der Einheit Deutschlands.

KNA: Welche Ereignisse scheinen Ihnen im Rückblick besonders wichtig auf dem Weg zur politischen Wende?
Reinelt: Die Ökumenische Versammlung war sicher ein Signal dafür, dass in den Kirchen Kräfte agierten, die nicht einzudämmern waren. Da waren viele junge Menschen, die es satt hatten, sich alles gefallen zu lassen. Schon in den Jahren zuvor gab es die Friedensgebete in den Kirchen, besonders in Leipzig. Und bei den Demonstrationen, die ich in Dresden erlebt habe, fiel mir auf, dass die Mächtigen sie tatsächlich mit großem Respekt registrierten. Man spürte: Sie hätten nicht damit gerechnet, dass so viele Menschen diesen Mut aufbringen.

KNA: Was waren Ihre Erwartungen nach der Wende?
Reinelt: Die DDR sollte endlich verschwinden, und es sollte nach Möglichkeit nichts mehr davon übrig bleiben. Das war meine große Hoffnung. Und ich sage ganz ehrlich: Natürlich habe ich auch gehofft, dass die Kirche in diesem neuen, gemeinsamen Deutschland eine wichtige Bedeutung hat. Teilweise ist das auch eingetreten. Für mich war es etwa neu, dass Gruppen mich als Redner einluden, die erst mal nichts mit Kirche zu tun haben.

Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat erlebe ich als freundschaftlich. Ich glaube, dass die Politiker in diesem Land begriffen haben: Kirche ist nicht eine Last, sondern ein Träger in der Gesamtverantwortung der Gesellschaft und sehr bedeutsam für die Ziele des Menschseins.

KNA: Wie bewerten Sie den Beitrag der katholischen Kirche zur friedlichen Revolution?
Reinelt: Die evangelische Kirche hat bestimmt mehr dazu beigetragen. Vielleicht waren wir zu naiv. Aber wir waren sicher engagierter dabei, als es in den Medien oftmals erschien. So habe ich mich oft mit dem damaligen evangelischen Landesbischof abgestimmt und etwa entschieden, dass er die Demonstranten in Leipzig und ich diejenigen in Dresden begleite.

Wichtig ist aber auch festzuhalten, dass die katholische Kirche in den Jahren zuvor kompromissloser gegenüber dem DDR-Staat war. Kritik etwa in Hirtenbriefen war viel schärfer formuliert. Kirchengemeinden waren auch Übungsräume für die Demokratie, wie es Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse einmal formulierte. Nicht ohne Grund sind nach der Wende so viele Katholiken in die Politik gegangen.

KNA: Inwieweit gibt es noch die oft zitierte «Mauer in den Köpfen» der Menschen zwischen Ost und West?
Reinelt: Ich denke, der Begriff «Mauer in den Köpfen» ist ein bisschen ungerecht. Dass manche Leute den gemütlichen Seiten der DDR nachtrauern, bedeutet nicht, dass sie das Staatssystem zurückhaben wollen. Diese Erinnerung etwa an spontane Feste, wenn jemand mit Beziehungen zum Fleischer Bratwürste bekam, würde ich nicht überbewerten. Nur die alten unverbesserlichen Genossen wollen die alte DDR wiederhaben.

Das Interview führte Birgit Wilke.