Bischof Overbeck über Solidarität und Hartz IV

"Menschen gezielter fördern"

Wie soll der Sozialstaat in Zukunft aussehen? In der Politik geht die Debatte über Hartz IV weiter, gleichzeitig werden Rufe nach Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens lauter. Der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck sieht Reformbedarfe.

Hartz IV Symbolbild / © Jens Büttner (dpa)
Hartz IV Symbolbild / © Jens Büttner ( dpa )

KNA: Bischof Overbeck, «fördern und fordern» lautet der Grundsatz von Hartz IV - nun scheinen manche Politiker davon abzurücken. Ist das Prinzip noch haltbar?

Franz-Josef Overbeck (Bischof von Essen und Vorsitzender der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen bei der Deutschen Bischofskonferenz): Sozialpolitik bedarf der permanenten Weiterentwicklung, das gilt auch für Hartz IV. Sicherlich gibt es Reformbedarfe, etwa bei der Berechnung der Regelsätze, bei der Anrechnung von Zuverdiensten und bei der ergänzenden Unterstützung für Erwerbstätige mit niedrigen Löhnen, die Familie haben.

KNA: Aber?

Overbeck: Dabei sollten wir folgendes Grundprinzip nicht in Frage stellen: Ziel der Sozialpolitik muss es sein, durch Bildung und gezielte Förderung die Menschen in Lohn und Brot zu bekommen. Arbeit bedeutet Selbstverwirklichung und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Daher macht mir insbesondere die hohe Zahl der Langzeitarbeitslosen Sorgen.

KNA: Was halten Sie von der Idee eines Grundeinkommens?

Overbeck: Da bin ich skeptisch. Wir haben heute in vielen Branchen einen großen Fachkräftemangel, der sich durch den demografischen Wandel noch weiter verschärfen wird. Im Zuge der Digitalisierung sind Arbeitsplätze bedroht, vermutlich werden aber in anderen Wirtschaftszweigen neue Arbeitsplätze entstehen. Im Übrigen rechne ich auch bei den sozialen Berufen, etwa im Pflegebereich, mit einem erheblichen Mehrbedarf in den kommenden Jahrzehnten.

KNA: Das heißt?

Overbeck: Vor diesem Hintergrund halte ich die hinter der Idee eines Grundeinkommens stehende Prämisse, dass es in Zukunft nicht mehr genug Lohnarbeit geben wird, für verfehlt. Dazu kommt die nicht geklärte Frage nach der Finanzierbarkeit. Insgesamt betrachte ich die Debatte um ein bedingungsloses Grundeinkommen mit Vorsicht, da sie uns von den drängenderen Fragen nach der Ausgestaltung unserer Sozialsysteme ablenkt. Wir müssen alles dafür tun, dass Menschen ihren Lebensunterhalt selbst verdienen können.

KNA: Was kann oder könnte die katholische Soziallehre zu der Debatte um Reformen bei Hartz IV beisteuern?

Overbeck: Die katholische Soziallehre bringt in diese Debatte die sozialethischen Grundprinzipien der Subsidiarität und der Solidarität ein.

KNA: Speziell der Begriff "Subsidiarität" wird manch einem vermutlich nicht mehr so viel sagen.

Overbeck: Gemäß dem Subsidiaritätsprinzip sollen Menschen in ihrer Freiheit gestärkt und dazu ermutigt werden, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Was ein Mensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, darf ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden, so heißt es schon in der Sozialenzyklika Quadragesimo anno von Papst Pius XI. aus dem Jahr 1931. Das gilt noch heute.

KNA: An welcher Stelle kommt das Solidaritätsprinzip ins Spiel?

Overbeck: Wenn Menschen Hilfestellung und Förderung benötigen, dann sind nach dem Solidaritätsprinzip auch der Staat und die Gesellschaft gefordert. Als Personen stehen wir in Beziehung zueinander und sind auf eine soziale Ordnung ausgerichtet. Der Sozialstaat ist in diesem Sinne institutionalisierte Solidarität.

KNA: Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer - ist Solidarität in unserer Gesellschaft noch vermittelbar?

Overbeck: In der Tat müssen wir, auch angesichts populistischer Bedrohungen, jeden Tag für den gesellschaftlichen Zusammenhalt arbeiten. Dabei dürfen wir aber nicht in Hysterie verfallen. Hinter dem Eindruck, dass die Schere weiter auseinandergeht, verbirgt sich eine Reihe von konkreten Herausforderungen, die es anzupacken gilt.

KNA: Können Sie Beispiele nennen?

Overbeck: Ich denke etwa an gleichwertige Lebensverhältnisse in Stadt und Land, an den Generationenvertrag zwischen Jung und Alt, der auch in den Sozialsystemen regelmäßig neu auszutarieren ist, oder an die Integration neuer Mitbürgerinnen und Mitbürger. Dabei bin ich zuversichtlich, dass die Bedeutung von Solidarität in unserer Gesellschaft vermittelbar bleiben wird - auch dank der Kirchen, deren Stimmen im öffentlichen Raum gehört werden.

Das Interview führte Joachim Heinz.


Quelle:
KNA
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