Bischof Mussinghoff über Heiligtumsfahrt und Reliquienverehrung

"Glaube ist nicht nur eine Kopfsache"

Rund 100.000 Pilger erwartet das Bistum Aachen zu den zehn Wallfahrtstagen der Heiligtumswallfahrt. Über Sinn und Grenzen der Reliquienverehrung spricht Bischof Heinrich Mussinghoff.

Bischof em. Mussinghoff: Seit Dezember 2015 im Ruhestand (dpa)
Bischof em. Mussinghoff: Seit Dezember 2015 im Ruhestand / ( dpa )

KNA: Herr Bischof Mussinghoff, ist die Verehrung von Reliquien überhaupt noch zeitgemäß?

Mussinghoff: Ich denke ja. Wenn von Menschen, zumal von vorbildlichen Persönlichkeiten, ein Gegenstand zurückbleibt, dann sind diese Dinge zu Recht häufig sehr begehrt. Zum Beispiel das Scheitelkäppchen des heiliggesprochenen Papstes Johannes Paul II. Ich persönlich habe Rosenkränze von den letzten Päpsten. Mir ist es sehr wichtig, etwas von ihnen zu haben. So bete ich mit den von ihnen gesegneten Rosenkränzen. Das verbindet mich mit ihnen.

KNA: Der mittelalterliche Mensch ging davon aus, dass von den Reliquien eine Heilkraft ausgeht. Das ist fast schon ein magisches Verständnis. Welche Kraft geht denn nun von den Reliquien aus?

Mussinghoff: Die Kirche St. Thomas von Canterbury in Niederzier-Ellen, im Bistum Aachen, bewahrt ein Armreliquiar mit dem Unterarm und der Hand des Märtyrers Thomas Becket auf. Als Erzbischof von Canterbury weigerte er sich die Oberhoheit von König Heinrich II. über die Kirche anzuerkennen und wurde deshalb hingerichtet. Das ist die Hand, mit der der Bischof immer gesegnet und die Firmung gespendet hat. Diese Reliquie erzeugt einfach eine emotionale Bindung zu einem Christen, der für seinen Glauben sein Leben gelassen hat.

Wir sind nicht nur Menschen mit intellektuellen Gedanken, sondern auch mit großen Gefühlen. Wenn wir uns begrüßen, geben wir uns ja auch die Hand oder umarmen uns. Auch hier gibt es eine greifbare Nähe.

KNA: Die bei der Heiligtumsfahrt gezeigten Windeln Jesu wollen auf die Menschwerdung Christi hinweisen. Der Aachener evangelische Superintendent empfindet das als Banalisierung, denn das Wort Jesu sei doch das Entscheidende der Menschwerdung.

Mussinghoff: Aber Jesus ist hat nicht nur durch seine Worte gewirkt. Er hat gelebt, Menschen geheilt und dabei Zeichen gebraucht. Gottes Sohn ist leibhafter Mensch geworden. Das Christentum ist keine Buchreligion. Bei der Heiligtumsfahrt im Jahr 2000 kamen erstmals koptische-orthodoxe Christen. Ich habe sie mit den Windeln gesegnet und dabei betont, dass sie "damals in Ägypten die heilige Familie so freundlich aufgenommen haben". Die Kopten kommen nun zu jeder Heiligtumsfahrt; die Reliquie verbindet uns. Eine andere Geschichte: Ein junger Vater kommt mit dem Taufkleid seines neugeborenen Sohnes in den Dom und bittet die Aufsicht, damit die Windeln Jesu zu berühren. Da darf man nicht von Banalität sprechen, sondern hier zeigt sich eine große Emotionalität im Glauben.

KNA: Fürchten Sie nicht, dass sich in der Reliquienverehrung magische Vorstellungen breitmachen?

Mussinghoff: Da muss man natürlich sehr aufpassen; der Missbrauch steht sofort nebenan. Deshalb gehen wir auch sehr sorgsam mit den Reliquien um und sprechen von Zeichen für die Menschwerdung Gottes.

KNA: Bei der Heiligtumsfahrt gibt es zwar ein ökumenisches Taufgedächtnis. Bei der Heilig-Rock-Wallfahrt in Trier gab es jedoch eine viel stärkere Einbindung der evangelischen Kirche. Warum nicht in Aachen?

Mussinghoff: Wir haben die evangelischen Christen auch eingeladen. Aber die hiesigen Superintendenten sehen die Reliquienverehrung mit großer Skepsis, auch wegen der von Luther zu Recht angeprangerten damaligen Missstände im Umgang mit Reliquien. In Trier hat der frühere rheinische Präses Peter Beyer persönlich eine Verbindung geschaffen. Die Ansage, dass die Heilig-Rock-Wallfahrt ein Christusfest ist, ermöglichte ihm und seinen Nachfolgern eine intensive Teilnahme.

KNA: Braucht Glaube Sinnlichkeit?

Mussinghoff: Zum Beten benötigt man zwar keinen Weihrauch - und trotzdem brauchen wir sinnenhaft wahrnehmbare Zeichen. Auch Blumen sind nicht notwendig, trotzdem schmücken sie die Kirchen. Scherzhaft habe ich einmal zu einem evangelischen Bischof gesagt: Wir haben die Heiligen, die wir verehren, und ihr habt die Bekenntnisschriften. Glaube ist nicht nur eine Kopfsache, sondern hat auch mit Sinnlichkeit zu tun.

Das Interview führte Andreas Otto.


Quelle:
KNA