Bioethiker zum Beschneidungsverbotsurteil in Großbritannien

Religionsfreiheit oder körperliche Unversehrtheit?

Ein Gericht in Großbritannien hat die Beschneidung zweier muslimischer Jungen untersagt - die Mutter hatte erfolgreich geklagt. Eine schwierige Rechtsgüterabwägung für das Gericht, wie Bioethiker Dr. Andreas Bell bei domradio.de sagte.

Chirurgische Instrumente zur Beschneidung / © Bea Kallos (dpa)
Chirurgische Instrumente zur Beschneidung / © Bea Kallos ( dpa )

domradio.de: Der Richter hat erklärt, eine Beschneidung sei eine "unumkehrbare Prozedur". Es sei nicht gewährleistet, dass die Jungen den muslimischen Glauben später ebenso gewissenhaft praktizierten wie ihr Vater. Was meinen Sie, ist das eine gute Begründung?

Dr. Andreas Bell (Bioethiker beim Erzbistum Köln): Der Richter schaut auf die Rechtsgüter, um die es da geht. Das bezieht sich zum einen - so würden wir es in Deutschland sagen - auf das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Und eine Beschneidung ist natürlich ein unumkehrbarer Eingriff in die körperliche Unversehrtheit. Die Kinder werden dann damit leben müssen, und wir wissen noch nicht, ob sie das wollen. Bei einem Erwachsenen wäre das etwas anderes. Der ist für sich selber verantwortlich. Das kollidierende Rechtsgut ist dann das Recht auf freie Religionsausübung, wobei wir jetzt unterscheiden müssen, ob in diesem Fall der Vater seine Religion in Person seiner Kinder ausleben will oder ob es die Kinder selber wollen. Nun kann man kleine Kinder natürlich nicht fragen, ob sie Muslime sind und beschnitten werden wollen. Daher muss im Zweifelsfall das Gericht das Urteil fällen.

domradio.de: Das ist sicherlich eine ganz schwierige Frage. Ist denn die körperliche Unversehrtheit der Kinder höher zu bewerten als die Religionsfreiheit der Eltern?

Bell: Die Religionsfreiheit der Eltern ist zunächst einmal eine Freiheit für sich selbst, für die eigene Religionsausübung, nicht aber ein Freibrief dafür, dass man mit den Kindern sozusagen machen kann, was man will. Man könnte jetzt entgegenhalten, dass wir Christen doch auch unsere Kinder meist in ganz frühem Alter taufen. Die Taufe ist natürlich kirchenrechtlich ein unumkehrbarer Akt. Aber er fügt den Kindern keinen Schaden zu und sie haben immer noch als Erwachsene oder schon als Jugendliche die Freiheit, eine eigene Position dazu zu finden und vielleicht zu sagen, dass sei gar nicht ihr Glaube, den lehne man ab und man praktiziere ihn auch gar nicht. Mit der Beschneidung allerdings greift man sehr viel tiefer in die Persönlichkeit ein, indem man den Körper verändert. Das spielt sich dann auf einer anderen Ebene ab. Da ist die Unumkehrbarkeit eine körperliche und nicht nur eine kirchenrechtliche.

domradio.de: Inwiefern dürfen denn Eltern generell über den Körper ihrer Kinder bestimmen?

Bell: Zunächst einmal hat jedes Kind ein Recht auf eigene körperliche Unversehrtheit, aber auch ein Recht auf medizinische Behandlung - also ein Selbstbestimmungsrecht. Jedes Kind, unabhängig von Alter, Intelligenzgrad oder Bewusstseinszustand hat fraglos Rechte, kann sie aber selber nicht ausüben, weil es, wenn es zu klein ist, noch nicht entscheidungs- oder einsichtsfähig ist. Daher vertreten andere die Interessen des Kindes. Im Alltag sind das normalerweise die Eltern. Die Eltern sagen beispielsweise, das Kind solle geimpft werden. An der Stelle sehen wir, dass es kompliziert werden kann. Kein vernünftiges Kind wird sich im Angesicht einer pieksigen Spritze gerne impfen lassen. Trotzdem kann es dem Kindeswohl entsprechen, wenn man das machen lässt. In diesem Regelfall vertreten die Eltern also die Interessen des Kindes.

Es wird insgesamt erst dann schwierig, wenn sich die Eltern nicht einigen können und dann Gerichte angerufen werden müssen, die wiederum mit ganz großem Aufwand das Kindeswohl ermitteln müssen. Das geht natürlich bei kleinen Kindern nicht, indem man sie fragt. Und auch bei größeren Kindern muss man schauen, was sie einem sagen und wie das zu bewerten ist. Das ist eine ungeheuer komplizierte Aufgabe für das Gericht und - das darf man nicht vergessen - es ist auch eine furchtbare Situation für die Eltern. Zusehen zu müssen, wie eine Instanz, wie ein Gericht, das man gar nicht kennt, über das eigene Kind befinden soll, ist auch für die Eltern ganz schrecklich.

domradio.de: Heißt Religionsfreiheit nicht auch, dass die Kinder irgendwann selbst über ihre Religion bestimmen ohne auch körperlich "vorgeprägt" zu sein?

Bell: Normalerweise ja. Es ist die Freiheit der eigenen Entscheidung. Aber es gibt auch die negative Religionsfreiheit. Danach darf man nicht zu religiösen Überzeugungen oder Praktiken gezwungen werden, sondern darf auch etwas ablehnen. Von daher haben die Kinder die positive Religionsfreiheit, zu wählen, was sie möchten und zugleich die negative Religionsfreiheit, abzulehnen, was sie ablehnen möchten. Beides ist auch bei den Kindern schon vorhanden. Sie haben das Recht, nicht beschnitten zu werden. Man weiß nur meist noch nicht, was sie wollen.

domradio.de: Kann diese Entscheidung in Großbritannien ein Präzedenzfall sein?

Bell: Nach deutschem Recht ist so etwas dann, wenn das Urteil rechtskräftig ist, ein Präzedenzfall. Und auch im internationalen Recht ist das in der Regel ganz ähnlich. Ich bin nur kein Fachmann für Großbritannien, aber ich gehe davon aus, dass so ein Urteil einiges an Folgen nach sich zieht, die erst dann wieder verändert werden können, wenn es eine neue Gesetzeslage gibt oder vielleicht noch bessere Erkenntnisse vorliegen und ein anderes Gericht anders entscheidet. Aber zunächst einmal hat das Folgen und die werden dauerhaft sein.

Das Interview führte Silvia Ochlast.


Quelle:
DR