Betroffene kritisieren Aussagen von Kardinal Ouellet

"Eine Verhöhnung jedes Opfers in dieser Weltkirche"

Wird Missbrauch in Deutschland für kirchenpolitische Ziele missbraucht? Diesen Vorwurf richtet Kurienkardinal Marc Ouellet an die deutschen Bischöfe. Betroffenensprecher Johannes Norpoth sieht dahinter ein größeres Problem im Vatikan.

Die Kardinäle Ladaria, Parolin und Ouellet im Gespräch mit den deutschen Bischöfen / © Romano Siciliani (DR)
Die Kardinäle Ladaria, Parolin und Ouellet im Gespräch mit den deutschen Bischöfen / © Romano Siciliani ( DR )

DOMRADIO.DE: Missbrauch des Missbrauchs - oder wörtlich "die Ausnutzung der Angelegenheit der Missbrauchsfälle" wirft der Präfekt des Bischofsdikasteriums, Kardinal Marc Ouellet, der deutschen Kirche und dem Synodalen Weg vor. Diesen Vorwurf, vermute ich, haben Sie jetzt nicht zum ersten Mal gehört. Was geht Ihnen bei diesen Worten durch den Kopf?

Johannes Norpoth / © Max von Lachner (SW)
Johannes Norpoth / © Max von Lachner ( SW )

Johannes Norpoth (Sprecher des Betroffenenbeirats bei der Deutschen Bischofskonferenz und Beobachter des Synodalen Weges): Das ist tatsächlich nicht neu. Das wird insbesondere von der traditionalistischen Seite innerhalb unserer Kirche gerne mal angezogen. Bischof Voderholzer hat das Ganze ja sogar ins Wort gebracht in einer Synodalversammlung.

Ich will versuchen, diplomatisch und wohltemperiert zu formulieren: nichts verstanden. Insbesondere die mittlerweile breit angelegten Studien und Erkenntnisse der Studien, die in den einzelnen Bistümern angefertigt worden sind, werden einfach negiert. Warum auch immer. Ich vermag mittlerweile nicht mehr die Kreativität aufzubringen, mir vorzustellen, wie man auf die Idee kommt, heutzutage immer noch davon zu reden, dass es "sogenannte" systemische Ursachen sind.

DOMRADIO.DE: Das ist jetzt die faktische Ebene. Was geht Ihnen als Missbrauchsbetroffener da durch den Kopf?

Norpoth: Nichts verstanden, nichts kapiert. Das gilt generell für Menschen, die mit der Formulierung "Missbrauch des Missbrauchs" insbesondere gegenüber dem Synodalen Weg versuchen zu argumentieren. Noch schlimmer ist es, wenn es offizielle Vertreter der höchsten Leitungsebene unserer Kirche sind.

Man muss dazu sagen, Kardinal Ouellet ist so lange im Geschäft. Der kennt bereits die ersten Missbrauchsstudien, die aus dem eigenen Hause ja in Auftrag gegeben worden sind, aus den 90er Jahren zur amerikanischen Bischofskonferenz. Im Jahr 2022, nach einer so langen Laufzeit, immer noch von "sogenannten" systemischen Ursachen bis hin zu - wörtlich muss wohl auch gefallen sein - "sogenannten Missbrauchsfällen" zu reden, das geht nun wirklich nicht. Das negiert quasi die Wirklichkeit und auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse.

DOMRADIO.DE: Sie haben es grade schon angedeutet, was bedeutet es, dass das jetzt nicht aus einer politischen Randgruppe, sondern eben aus der Entscheidungsebene, aus der höchsten Ebene vom Vatikan kommt?

Johannes Norpoth

"Daniel Deckers von der FAZ hat das mal ganz gut mit dem Begriff "Gerontoklerikalismus" bezeichnet. Ich glaube, da ist einiges dran."

Norpoth: Daniel Deckers von der FAZ hat das mal ganz gut mit dem Begriff "Gerontoklerikalismus" bezeichnet. Ich glaube, da ist einiges dran. Alte Männer versuchen an ihrer Position, an ihrer Wahrnehmung und ihrem Bild der Kirche zwanghaft festzuhalten und mindestens so festzuhalten, wie es ihre eigene Macht ihnen ermöglicht. Und dann kommen auf einmal so Ergebnisse raus, die am Ende zu einer Verhöhnung aller weltweit bekannten und bis dato noch nicht bekannten Opfer sexualisierter Gewalt in unserer Kirche führen. Kardinal Ouellet sitzt in einer der obersten Leitungsebenen und vertritt damit eine Haltung. An dieser Stelle muss man dann auch mal Konsequenzen ziehen.

DOMRADIO.DE: Das heißt, Sie fordern da personelle Konsequenzen durch Papst Franziskus?

Norpoth: Es muss eine Haltungsänderung auch im Vatikan stattfinden. Wenn offizielle Vertreter aus dieser Ranghöhe immer noch in 2022, nach Unmengen von wissenschaftlichen Studien, von Erkenntnissen noch und nöcher, so reden, dann ist das Ausdruck einer nicht geänderten Haltung dieser Kirche. Und das konterkariert völlig die Position, die Meinung dieses Heiligen Vaters.

DOMRADIO.DE: Die Aussagen aus dem Vatikan offenbaren einen tiefen Graben zwischen der Deutschen Kirche und Rom. Hat der Synodale Weg überhaupt eine Zukunft, wenn das Entscheidungsgremium in Rom so denkt?

Norpoth: Keiner der Engagierten in dieser Kirche in Deutschland hat damit gerechnet und ist davon ausgegangen, dass die deutschen Bischöfe nach diesem Besuch mit breit gestärkten Rücken und quasi Rückenwind aus Rom zurückkehren. Dass es da an dieser Stelle zu einer deutlich formulierten Kritik kommen würde, dass es deutliche Vorbehalte insbesondere in den doch sehr kritischen Fragestellungen gibt, wie Sexualmoral, wie Zugang von Frauen zu Weiheämtern, das war und ist eigentlich jedem klar.

Ich würde das Ganze auch ein bisschen abschwächen, was die gesamte Situation angeht. Eine Situation, in der ein vorgeschlagenes Moratorium durch die Ortsbischöfe mehr oder minder verhindert werden konnte. Die hätte es vor fünf oder vor zehn Jahren nicht gegeben. Also an der Stelle, muss man ehrlicherweise sagen, da haben deutsche Bischöfe ja noch mal ganz andere Situationen erleben dürfen und müssen. Zum Beispiel rund um Donum Vitae und die Schwangerenkonfliktberatung. Da zeigt sich an dieser Stelle ein etwas anders gearteter Stil, eine Weiterentwicklung an dieser Stelle.

Und insofern heißt es weitermachen. Dass das ein Marathon ist, oder ein Extremmarathon, der nicht nach 42 Kilometern, sondern vielleicht erst nach 100 oder noch mehr Kilometern beendet sein wird, das sollte eigentlich jedem klar gewesen sein. Auch im Vorfeld.

Ich glaube aber, dass insbesondere Kardinal Ouellet an dieser Stelle deutlichst über das Ziel hinaus gestoßen ist. Und ein bisschen habe ich die Hoffnung, auch nach Gesprächen mit Teilnehmenden aus dem Ad-limina-Besuch, dass er die Spitze der Abwehrhaltung ist und in einigen anderen Entscheiderköpfen doch gemäßigtere Gedanken zu finden sind, wie bei Kardinalstaatssekretär Parolin oder aber auch Kardinal Ladaria. Da finden sich solche Begrifflichkeiten nicht.

Wenngleich das Wort "sogenannt" gegenüber Missbrauchsopfern und und den Taten schon eine Verhöhnung jedes Opfers in dieser Weltkirche ist, durch einen der obersten Vertreter dieser Weltkirche.

Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.

Was hat Kardinal Ouellet gesagt?

Im Nachgang des Ad limina-Besuchs der deutschen Bischöfe hat das Portal "Vatican News" in der vergangenen Woche zwei Redebeiträge der Kurienkardinäle Ladaria und Ouellet veröffentlicht. Insbesondere der Text des Kanadiers Ouellet, der dem Bischofsdikasterium vorsteht, steht in der Kritik. 

Kardinal Marc Armand Ouellet / © Cristian Gennari/Romano Siciliani (KNA)
Kardinal Marc Armand Ouellet / © Cristian Gennari/Romano Siciliani ( KNA )
Quelle:
DR