Bethel-Geschäftsführer zu Missständen für Behinderte in Kliniken

"Krankenhäuser sind keine Gesundheitskaufhäuser"

In den aktuellen Debatten um die Finanzierung des Gesundheitswesens spielen sie nur eine Nebenrolle: Menschen mit Behinderungen. Wenn sie krank werden, benötigen sie aber häufig eine besonders intensive Betreuung und Versorgung. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) beklagte Michael Seidel, Leitender Arzt und Geschäftsführer im Bereich Behindertenhilfe der von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel, am Dienstag in Bielefeld Missstände bei der Therapie von Menschen mit Behinderungen in Krankenhäusern.

 (DR)

KNA: Deutsche Kliniken sind derzeit einem enormen Kostendruck ausgesetzt. Wie wirkt sich dies auf die Situation von Patienten aus, die neben ihrer akuten Erkrankung geistig oder körperlich behindert sind?
Seidel: Ihre Versorgung im Krankenhaus wird besorgniserregend schlechter. Durch Einführung der Fallpauschalen-Vergütung der Krankenhausleistungen ist ihr besonderer Betreuungsbedarf oft nicht mehr finanziert. Die Krankenhäuser wollen deshalb nicht selten Menschen mit Behinderungen, die Ärzten und Pflegenden überdurchschnittlich viel Arbeit machen, schnell wieder loswerden. Das geht bis zu riskanten Frühentlassungen. In Einzelfällen werden Menschen mit Behinderungen mit Medikamenten ruhiggestellt oder im Bett fixiert.

KNA: Was unterscheidet die Behandlung von Menschen mit und ohne Behinderungen im Krankenhaus? Welche besonderen Bedingungen sind nötig?
Seidel: Menschen mit schwerer geistiger Behinderung können zum Beispiel nicht präzise genug ihre Beschwerden schildern. Dadurch werden Diagnostik wie Therapie langwieriger. Zudem sind sie eher mit der für sie ungewohnten und undurchsichtigen Situation überfordert. Das kann zu Angst, Desorientierung und anderen Verhaltensauffälligkeiten führen. Sie benötigen deshalb intensive Begleitung, Hilfestellung und Zuspruch. Menschen mit Behinderungen passen nicht in den Takt einer zunehmend standardisierten Fließbandmedizin und Eilmedizin. Menschen mit Behinderungen binden überdurchschnittlich viele Ressourcen. Deshalb ist es die nüchterne Logik unseres Krankenhaussystems, wenn man gerade sie sich gerne schnell «aus dem Fell bürsten» möchte.

KNA: Was fordern Sie zur Verbesserung der Situation?

Seidel: Vor allem muss die Politik die Kostenträger darauf verpflichten, den Krankenhäusern deren pflegerischen und sonstigen Mehraufwand für Menschen mit Behinderungen aufwandsgerecht zu vergüten. Das ist bislang nicht der Fall. Zudem müssen Angehörige oder Mitarbeiter aus Behinderteneinrichtungen mit ins Krankenhaus gehen können, wo dies nötig ist. Das setzt aber voraus, dass begleitende Angehörige finanzielle Entschädigung für die Arbeitsfreistellung erhalten oder die notwendige und oft sinnvolle Begleitung durch Betreuer aus Einrichtungen und Diensten der Behindertenhilfe durch die Sozialhilfekostenträger finanziert werden.

KNA: Und die Kliniken selbst?

Seidel: Vielerorts ist sicher mehr Wissen über die besonderen Bedürfnisse von Behinderten nötig. Fortbildungen für Ärzte und Pflegekräfte wären hilfreich. Es müsste eine respektvolle Haltung und ein Verständnis dafür zunehmen, dass besonders Menschen mit Behinderungen eine umfassende Betreuung benötigen. Wir brauchen soziale Krankenhäuser und keine Gesundheitskaufhäuser.

KNA: Können die normalen Krankenhäuser dieses intensive Eingehen auf den Einzelnen wirklich leisten, oder bedarf es dann nicht eher spezialisierter Gesundheitszentren?
Seidel: Ja und nein. Die Fachverbände der Behindertenhilfe kommen zu einer zweifachen Schlussfolgerung. Erstens: Wir sind davon überzeugt, dass erster Ansprechpartner für kranke Menschen mit Behinderungen das reguläre Gesundheitswesen ist und bleiben muss. Also das ganz normale Krankenhaus, allerdings mit Bedingungen, unter denen angemessene Behandlung und Pflege von behinderten Menschen möglich ist. Dazu müssen der stetig wachsende ökonomischen Druck auf die Kliniken überwunden und Auswege aus dem enormen Pflegenotstand gefunden werden.

KNA: Dennoch gibt es Grenzen?
Seidel: Ja, also muss es zweitens für die besonders komplizierten Fälle von schwerst- und mehrfach behinderten Menschen, die normale Krankenhäuser fachlich und organisatorisch überfordern können, Spezialkliniken geben. Ich würde mir wünschen, dass es für jedes Bundesland ein solches Haus gäbe. Bislang kenne ich bundesweit aber nur zwei solche Kliniken: die Klinik Mara in Bethel und die Sankt-Lukas-Klinik in Meckenbeuren am Bodensee. Daneben gibt es für psychisch erkrankte Menschen mit geistiger Behinderung einige Spezialabteilungen in psychiatrischen Fachkrankenhäusern.