Bestsellerautor von Schirach über das Schreiben, die Kirche und den Tod

"Das Katholische entspricht mehr dem, was wir sind"

Ein Foto? Ferdinand von Schirach winkt ab: "Nicht jetzt, ich sehe wirklich zu müde aus." Doch davon ist im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur nichts zu spüren. Im Gegenteil: Hellwach und offen erzählt der Anwalt von seinem Beruf und von der Schriftstellerei.

 (DR)

KNA: Herr von Schirach, in Ihrem neuen Roman "Der Fall Collini" geht es um ein spezielles Kapitel der juristischen Auseinandersetzung mit dem NS-Regime, das Dreher-Gesetz. Worum handelt es sich genau?

von Schirach: 1969 wurde ein ganz harmlos klingendes, kleines Gesetz verabschiedet. Weder der Bundestag noch der Bundesrat noch die zahlreichen Justizausschüsse merkten, worüber sie eigentlich abstimmten. Und als das Gesetz in Kraft trat, war es zu spät. Es war eine Art kalte Amnestie für die meisten Verbrechen in der NS-Zeit. Plötzlich konnten aus der Zeit des sogenannten Dritten Reiches nur noch Mordtaten verfolgt werden. Alle anderen Verfahren gegen die NS-Täter mussten eingestellt werden; sie waren mit einem Schlag verjährt.



KNA: Ein ungeheuerlich klingender Vorgang.

von Schirach: Das vom Leiter der Strafrechtsabteilung im Bundesjustizministerium, Ernst Dreher, erarbeitete Gesetz ist tatsächlich der größte Justizskandal in der Geschichte der Bundesrepublik gewesen. Auch für Juristen ist überhaupt nicht vorstellbar, was da passiert ist. Interessant war für mich aber vor allem die "Zweite Schuld der Deutschen", wie es Ralph Giordano mal genannt hat, also die Frage: Wie ging die junge Bundesrepublik mit den NS-Tätern um? Das ist ein Thema, das in Romanform, soweit ich weiß, noch nicht behandelt worden ist.



KNA: Ihr eigentliches Interesse als Anwalt gilt den sogenannten Kapitaldelikten - warum?

von Schirach: Bei Kapitaldelikten geht es um das Wesen des Menschen, es geht um uns.



KNA: Was zeigt sich da für Sie: Der Mensch als grausamer und bisweilen lächerlicher Unfall der Geschichte?

von Schirach: Als Strafverteidiger muss man sich irgendwann entscheiden: Wird man zum Zyniker, oder mag man den Menschen? Ich glaube, dass der Mensch alles ist: Er kann Opern komponieren, er kann ins Weltall fliegen und er kann morden. Man muss den Menschen nehmen, wie er ist. Zynismus ist keine Alternative.



KNA: Gäbe es prominente Mandate, die Sie aus ethischen oder moralischen Gründen heraus ablehnen würden?

von Schirach: Ich verteidige keine Menschen, denen sexueller Missbrauch von Kindern vorgeworfen wird, und ich verteidige keine Rechtsradikalen. Aber Alan Dershowitz, einer der bekanntesten Verteidiger der USA, ein Harvard-Professor, - einige seiner Verwandten wurden im Holocaust ermordet - sagte einmal, er hätte auch Adolf Hitler verteidigt. Dieses Mandat hätte ich allerdings nicht übernommen.



KNA: Weil Ihr Großvater Baldur von Schirach Teil des NS-Regimes war?

von Schirach: Ja, aber auch, weil es eine Grenze gibt. Wenn ein Regime Menschen industriell tötet, ist es unerheblich, was man für die Täter in die Waagschale werfen könnte. Ihre Schuld ist so groß, dass es nichts mehr zu verteidigen gibt.



KNA: Sie selbst waren zehn Jahre auf dem Jesuiteninternat Sankt Blasien im Schwarzwald - wie sehr hat Sie das geprägt?

von Schirach: Die wesentlichen Freundschaften in meinem Leben sind in meiner Internatszeit entstanden. Es ist eine Art Insel gewesen, ein Mikrokosmos. Aber es war keine Insel der Seligen.



KNA: Sie spielen auf den Missbrauchsskandal an - hat sich Ihr Bild von Kirche seither geändert?

von Schirach: Ich bin sofort nach dem Abitur aus der Kirche ausgetreten. Nicht wegen des Missbrauchs, davon wusste ich gar nichts. Es lag daran, dass ich Protestant war und in ein katholisches Internat ging. Wenn ich katholisch gewesen wäre, weiß ich nicht, ob ich ausgetreten wäre. Vermutlich nicht so schnell.



KNA: Warum?

von Schirach: Das Katholische entspricht mehr dem, was wir sind. Es gibt dort die Sünde und die Beichte, es gibt die Heiligen und die Kunst, und es gibt Verbrechen und Macht. Der Protestantismus schien mir dagegen fade und langweilig. Es waren zuerst die Pfarrer, die in der Kirche Blockflöte und Gitarre spielten - das interessierte mich nie.



KNA: Wie stehen sie heute zur Kirche?

von Schirach: Sie hätte den Missbrauchsskandal zu einer echten Kehrtwende nutzen können. Es ist einfach: Strafrechtlich sind die Vorwürfe zwar verjährt, aber zivilrechtlich ist das Institut der Verjährung nur eine Einrede. Das bedeutet: Würde die Kirche öffentlich erklären "Wir verzichten auf die Einrede der Verjährung", könnten die Prozesse geführt werden. Es würde in einem Gerichtsverfahren aufgeklärt, was dort eigentlich passierte. Nach meiner Erfahrung helfen solche Verfahren den Missbrauchsopfern. Der Spruch eines Richters ist die Feststellung: Das war Unrecht. Um das Geld geht es gar nicht; es geht um die Feststellung, es geht um das öffentliche Urteil. Die Kirche tut das nicht, und das stößt mich wirklich ab.



KNA: Nochmal zurück zu Ihren Büchern. Da sterben Menschen auf die unterschiedlichsten Weisen - nimmt das die Angst vor dem eigenen Tod?

von Schirach: Wir haben eigentlich keine Angst vor dem Tod - wir haben Angst vor dem Sterben. Diese Angst ist mächtig: Wir wollen leben, das ist der stärkste Trieb im Menschen. Aber vielleicht hat sich bei mir durch meinen Beruf etwas geändert: Mir ist jeden Tag bewusst, dass es ein Ende gibt und dass es nicht mehr so lange dauert.



KNA: Was meinen Sie: Kommt noch etwas danach?

von Schirach: Natürlich wird unser Bewusstsein nicht mehr existieren - es ist dann einfach so wie vor unserer Geburt. Wenn man darüber nachdenkt, ist der Tod eine großartige Einrichtung: Das Alte vergeht, und etwas Neues kann entstehen. Ich finde, es ist eine wunderbare Zeit hier - aber es ist nicht tragisch, wenn sie endet. Man sollte sich selbst nicht so wichtig nehmen.



Das Gespräch führte Joachim Heinz.