domradio.de: Ihr Gemeindezentrum liegt in unmittelbarer Nachbarschaft des Asylheims. Was bekommen Sie von den Protesten mit?
Wittig: Wenn was angesagt ist, versuchen wir mit verschiedenen Leuten aus der Gemeinde auch präsent zu sein. Das Schwierige ist, dass verschiedene Gruppen dort die Gelegenheit nutzen, sich zu präsentieren und das auch sehr laut tun. Das verschreckt die Bewohner sehr. Hellersdorf ist ja im Grunde genommen eine Schlafstadt. Da leben 100.000 Einwohner, es gibt kaum Arbeitsplätze. Daher sind viele unterwegs und brauchen dann zu Hause ihre Ruhe. Aber es sind nicht die Asylbewerber und Flüchtlinge, sondern die Protestierer, die da Lärm machen.
domradio.de: Die ersten Flüchtlinge haben aus Angst das Heim schon wieder verlassen, wie fühlt man sich da als Hellersdorfer Bürger?
Wittig: Es ist peinlich, dass da Menschen vor uns flüchten! Es ist aber schwierig, das differenziert darzustellen. Verständnis kann man von den Flüchtlingen kaum erwarten, die kommen ja aus schlimmen Situationen. In der Heimat krachen die Bomben herunter, und hier geht es dann weiter. Die denken, sie sind endlich angekommen, und dann geht das alles von vorne los auf andere Weise, dass man um sein Leben fürchten muss.
domradio.de: Was kann die Kirchengemeinde in dieser Situation tun?
Wittig: Wir können diese Arbeit nur im Kleinen anfangen. Das Laute und das Schlimme ist ja einfach erreicht mit Plakaten und Lärm. Aber Verständnis zu erlangen und ein gegenseitiges Kennenlernen dauert sehr lange. Das muss gut vorbereitet sein, und dabei sind wir als Kirchengemeinde momentan. Da arbeiten wir zusammen am Netzwerktisch "Für Menschen in Hellersdorf in Not". Da ist auch die katholische Gemeinde vertreten. Wir versuchen jetzt ein nachbarschaftliches Kennenlernen in Gruppen zu organisieren, und da sind wir auch schon im Kontakt mit der Heimleitung. Zunächst muss man die Menschen erst mal ankommen lassen und ihnen ein paar Tage zum Beruhigen geben. Man muss Menschen finden, die da mitmachen! Auch Dolmetscher brauchen wir. Das zieht sich. Aber die schlimmen Ereignisse haben Folgen von Tag zu Tag. Wir empfinden uns hier tatsächlich im Ausnahmezustand.
domradio.de: Schon im Vorfeld war das Asylheim umstritten. Sogar Bundespräsident Joachim Gauck hatte während eines Gottesdienstes in ihrer Kirchengemeinde Verständnis angemahnt. Fühlen Sie sich als Hellersdorfer von der Politik genügend unterstützt?
Wittig: Ja, tatsächlich nehmen die Kommunalpolitiker tapfer wahr, was hier passiert und was wir tun. Die Kommunalpolitik engagiert sich auch für die Menschen. Die Politiker führen mit den Anwohnern Gespräche in kleinen Gruppen fernab der Öffentlichkeit. Aber sie werden auch von allen Seiten beschimpft.
domradio.de: Wie schwierig ist es für Sie als Pfarrer, mit Rechtsradikalen umzugehen?
Wittig: Ich bin ja als Christ zur Feindesliebe aufgerufen. Aber in der aktuellen Situation muss ich auch sehen, wo da die Grenzen sind. Wir haben bald einen Kreiskirchentag, auch da wird es darum gehen, sich für die Menschenrechte und gegen Gewalt einzusetzen. Aber ich sehe auch, dass die Grenzen oft fließend sind, gerade bei Menschen, die Angst und Vorbehalte haben. Das wieder aufzubauen, was mit den Protesten ganz fix kaputtgemacht wird, ist eine langwierige, schwierige Angelegenheit. Das braucht viele Gespräche. Aber ich bin hoffnungsvoll.
Das Interview führte Tobias Fricke.