Sie kannte ihn von der gemeinsamen Arbeit in einer Werkstatt für Behinderte. Petra Martens (Name geändert) dachte sich nichts dabei, als sie ihren Kollegen mit in ihre Wohnung nahm. Doch dort hat er sie zwei Mal vergewaltigt. Die 19-Jährige ist wegen einer frühkindlichen Gehirnschädigung geistig behindert. Wegen mangelnder sexueller Aufklärung wusste sie nicht einzuschätzen, was ihr geschehen war. «Sie hat zuerst geschwiegen, sich später aber einem Betreuer anvertraut», sagt Astrid Schäfers.
Die Leiterin eines Projektes gegen sexuelle Gewalt an Menschen mit Behinderungen in Paderborn kennt das Schicksal von Petra Martens aus ihrer Praxis. Zwar gibt es keine offiziellen Statistiken, «aber es wird geschätzt, dass behinderte Menschen ein vier Mal höheres Risiko haben, Opfer sexueller Gewalt zu werden als Menschen ohne Behinderung», sagt Schäfers. Die Dunkelziffer ist hoch: Jede zweite behinderte Frau soll bereits einmal sexuelle Gewalt erfahren haben.
Ein Thema, das lange tabuisiert wurde. Doch inzwischen wächst die Aufmerksamkeit. Im Kreis Paderborn haben der Caritasverband, der Sozialdienst katholischer Frauen, Kinder- und Jugendhilfen, Behinderteneinrichtungen und die Kreispolizeibehörde eine Arbeitsgruppe gebildet. Das Vorhaben wird von der Aktion Mensch gefördert.
Martina Puschke ist Projektleiterin beim «Weibernetz», einer politischen Interessenvertretung behinderter Frauen mit Sitz in Kassel. Auch nach ihrer Ansicht wird sexueller Missbrauch von Menschen mit Behinderung in Deutschland zu wenig thematisiert. Dabei legten Studien aus Österreich nahe, dass es gerade in Behinderteneinrichtungen häufig zu Übergriffen komme.
«Schätzungsweise 60 Prozent der Frauen dort werden Opfer von sexueller Gewalt», sagt Puschke.
Die Täter kommen oft aus dem sozialen Umfeld der Behinderten. Meist bestehen Abhängigkeiten. Dass die Zahl der Übergriffe besonders in den stationären Einrichtungen hoch ist, bestärkt die Selbsthilfeorganisation «Interessenvertretung Selbst bestimmt leben (ISL)» darin, mehr ambulante Hilfen für lern- und geistig behinderte Menschen zu fordern.
«Beim sexuellen Missbrauch geht es um die Ausübung von Macht und Dominanz», sagt Schäfers. Gerade in der Behindertenhilfe gebe es ein großes Machtgefälle, denn die Menschen mit geistigen Behinderungen seien existenziell auf Unterstützung angewiesen. Mangelnde Sexualaufklärung bei behinderten Menschen trage mit dazu bei, dass sexueller Missbrauch oft nicht entdeckt werde.
Das Projekt im Kreis Paderborn will durch Prävention und Beratung verstärkt über das Thema aufklären. Das geschieht auch mittels eines Puppentheaters. Puppenspielerin Nelo Thies, die bislang vor allem in Kindergärten auftritt, wird künftig ihre Stücke in Behindertenwohnheimen, Werkstätten und Schulen für Lernbehinderte zeigen. «Arme, Beine, Bauch und Po sind nur meine, sowieso», heißt eine ihrer Textzeilen.
Die Kreispolizei in Paderborn erhofft sich durch das Projekt, dass mehr sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen angezeigt werden.
«Einem lernbehinderten Mädchen an die Brust zu fassen, ist eindeutig ein Übergriff», sagt Kriminalkommissarin Sonja Biermann, die an dem Projekt beteiligt ist.
Doch Projektleiterin Astrid Schäfers weiß aus Erfahrung, dass sich Behinderte scheuen, über einen Missbrauch zu sprechen. Auch Petra Martens hatte sich nicht gewehrt und den ebenfalls behinderten Täter nicht angezeigt. «Sie wollte nicht, dass es jemand erfährt», sagt Schäfers. Deshalb ist ein Ziel der psychologischen Beratung, die behinderten Menschen in ihrer Persönlichkeit zu stärken. Sie sollen lernen, anderen gegenüber Grenzen zu ziehen.
Behinderte Menschen sind häufig Opfer sexuellen Missbrauchs
Die Täter kommen aus dem sozialen Umfeld
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