Behinderte fertigen Plätzchenformen von Kirchengebäuden

Zwischen Kisten und Kirchtürmen

In Deutschland gibt es rund 720 Werkstätten für Behinderte. Etwa 291.000 Frauen und Männer mit geistigen, körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen können auf diese Weise am Arbeitsleben teilnehmen. Ein Besuch in den Berliner Mosaik-Werkstätten.

Autor/in:
Bettina Noeth
Kölner Dom in Berlin: Erfinder Philipp Berief (KNA)
Kölner Dom in Berlin: Erfinder Philipp Berief / ( KNA )

In der linken Hand hält Andreas Stelzig den Kölner Dom. Er ist elf Zentimeter hoch, aus Plastik und knallrot. Und: Er steht in Berlin, im vierten Stock einer ehemaligen Textilfabrik im Ortsteil Kreuzberg. Mit einer Zange zwickt der 25-Jährige Plastikbahnen ab, die beim Gießen zurückgeblieben sind. "Ich muss das ganz genau rausschneiden", erklärt er. "Denn sonst kommen später keine schönen Plätzchen raus."



Stelzig arbeitet in den Mosaik-Werkstätten. Junge Menschen mit Behinderung sorgen dort dafür, dass die Plätzchenformen der Firma "phil goods" ihren letzten Schliff erhalten. Mit vier Arbeitskollegen der Gruppe "Industriemontage 2" sitzt Stelzig an einem großen Holztisch in der lichtdurchfluteten Werkstatt. Wenn der junge Mann eine Form fertig geschnitten hat, ordnet er sie in eine blaue Plastikkiste ein. Stelzig hat eine 35-Stunden-Woche.



Um halb acht beginnt Stelzigs Arbeitstag, um 14.45 Uhr ist Feierabend. Zwischendrin je eine halbe Stunde Frühstücks- und Mittagspause, in der die geistig behinderten jungen Männer und Frauen in der Mensa ein Stockwerk tiefer gemeinsam essen; sowie zwei weitere Pausen von je einer Viertelstunde. Während der Anwesenheitszeit in der Werkstatt können die Mitarbeiter auch an sogenannten begleitenden Maßnahmen wie Schwimmen, Fußball, Kunsttherapie oder einem Chorprojekt teilnehmen. Etwa 130 Euro monatlich verdienen Werkstatt-Mitarbeiter in Berlin, der Bundesdurchschnitt lag im Jahr 2010 bei rund 180 Euro. Hinzu kommen verschiedene Sozialleistungen, etwa für Betreuung oder Wohnen. Über die Werkstatt ist Stelzig trotz des geringen Lohns auch kranken-,

pflege- und rentenversichert.



Wahrzeichen in Seidenpapier

Dutzende Kisten stapeln sich in den Regalen. Umgeben von Seidenpapier lagern darin berühmte Wahrzeichen: das Brandenburger Tor, die Freiheitsstatue, der Eiffelturm. Große Persönlichkeiten wie Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich der Große verlieren als bunte Ausstechformen ihre Erhabenheit und Strenge. Und dann stehen da noch unzählige Kartons voller Kirchen: Zwiebeltürme verschiedener Größen weisen auf die Moskauer Basilius-Kathedrale hin, einer Krone ähneln die vier Türme von Antoni Gaudis "Sagrada Familia" in Barcelona, markant auch die Form der Dresdner Frauenkirche, deren hohes Kuppeldach an eine Glocke erinnert, und der hohe Kirchturm des Hamburger Michels.



Erfinder und Vermarkter der Plastikwahrzeichen ist Philipp Berief: schwarze Turnschuhe, brauner Kapuzenpulli, Dreitagebart. Beim Backen mit Freunden kam der Berliner Produktdesigner auf die Idee mit den Keksformen. "Mir fehlten bestimmte Plätzchenformen", erklärt der 47-Jährige, der damals noch als Psychologe arbeitete. Vor fünf Jahren gründete er dann sein Ein-Mann-Start-Up-Unternehmen "phil goods" und baute sich eine neue Existenz auf - aus Ausstechformen. Deren letzter Herstellungsschritt, Verpackung, Lagerung und Versand verlaufen über die Mosaik-Werkstätten.



Für ihn liefern sie "beste Qualität", und "die Zusammenarbeit macht unglaublich Spaß". So gehen von Kreuzberg aus jedes Jahr viele tausend Plastikwahrzeichen in die ganze Welt. An der Rückseite eines Schrankes in der Werkstatt hängt eine Weltkarte. Bunte Metallstecker zeigen an, in welche Städte und Länder die Mitarbeiter bereits Ausstechformen versandt haben: nach Madrid und Moskau, aber auch nach Israel oder in die USA.



Osman Abasiyanir steht oft vor der Karte. Ihn interessiert, wohin die fertig verpackten Keksformen ihre Reise antreten und wie weit die Städte von Berlin entfernt sind, in denen die Wahrzeichen stehen. Abasiyanirs dunkle Augen und sein schwarzes Haar verraten seine türkischen Wurzeln. In der Kreuzberger Behindertenwerkstatt haben etwa ein Drittel der Mitarbeiter Migrationshintergrund.

Türkischstämmiges Personal hilft, wenn es Verständigungsschwierigkeiten gibt. Die hat Abasiyanir nur selten.



Er ist in Deutschland geboren, mit Stelzig hat er schon gemeinsam die Schulbank gedrückt. Konzentriert fährt der 23-Jährige mit der Hand die Kanten der durchsichtigen Verpackungsschachteln entlang und faltet sie zusammen. Die Arbeit macht dem jungen Mann Spaß - das ist eine Abwechslung zur Montage von Metallkontakten, für die seine Gruppe ebenfalls einen Großauftrag aus der Industrie hat.



Stolz auf die eigene Arbeit

In weiteren Abteilungen der Kreuzberger Werkstatt stellen Mitarbeiter Kerzen her, bearbeiten Metall, sind in der Hausreinigung und der Kantine eingesetzt. Zudem können Menschen mit Behinderung an anderen Berliner Mosaik-Standorten in Gärtnereien, Tischlereien, im Einzelhandel der Gastronomie oder einer Wäscherei arbeiten.



In edler Verpackung werden die Ausstechformen an Souvenirshops, Küchenfachgeschäfte und Geschenkartikelläden versandt: Der knallrote Kölner Dom steckt in einer durchsichtigen Plastikschachtel und hebt sich vor schwarzem Papphintergrund ab. Und landet so etwa im Kölner Domshop: neben Frühstücksbrettchen, Schlüsselanhängern und Brillenputztüchern. Von dort aus geht sein Weg weiter in deutsche und ausländische Küchen.



Auf dem Weg vom Rohling zur Backform steht die Arbeit von Abasiyanir und Stelzig - darauf sind sie auch ein bisschen stolz. Denn Stelzig backt selber gerne mit "seiner" Form, auch wenn es nicht ganz einfach ist. "Manchmal sind die Türme abgebrochen", sagt der 25-Jährige. Dabei hat er bei einem Besuch in Köln gerade die zwei hohen Türme am gotischen Original bewundert: "Mir gefällt er sehr gut, das ist eine riesengroße Kirche."