Autor Kermani kritisiert Beschneidungsdebatte

Antireligiöse Stimmung

Glauben als unbekanntes Terrain: Ein Orientalist beklagt einen "religiösen Analphabetismus", der in der Gesellschaft um sich greife.
Daher sieht er auch die Kirchen gefordert.

 (DR)

Die Beschneidungsdebatte hat nach Ansicht des deutsch-iranischen Schriftstellers Navid Kermani eine antireligiöse Stimmung in Deutschland offenbart. "Die Konfliktlinien in religionspolitischen Fragen verlaufen nicht zwischen den einzelnen Religionen, sondern zwischen den Religionen insgesamt und einer zunehmend aggressiv auftretenden antireligiösen Haltung in der Gesellschaft", sagte der Kölner Orientalist am Freitagabend in Münster.



Diese Haltung stelle die religiösen Begründungen von Handeln, Bekenntnissen und Motiven grundsätzlich in Frage. "Wenn metaphysische Begründungen, die nicht aus dem Hier und Jetzt rühren, gesellschaftlich nicht mehr als relevant wahrgenommen werden, betrifft das nicht nur Islam und Judentum, sondern bald auch christliche Traditionen."



Die liberale Rabbinerin Elisa Klapheck aus Frankfurt sagte, dass die deutsche Gesellschaft auf die "multireligiöse Wirklichkeit" noch nicht eingestellt sei. Als Beispiel nannte die Rabbinerin Erfahrungen mit Medienvertretern, die kaum etwas über jüdische Traditionen und Feste wüssten. Das sei etwa in den Niederlanden anders, obwohl dort auch nur wenige Juden lebten.  



Religiöser Analphabetismus

Kermani beklagte einen allgemein "um sich greifenden religiösen Analphabetismus". Gläubige aller Religionen sollten mit mehr Ernsthaftigkeit ihren Glauben vorleben, forderte er. Den Kirchen warf der diesjährige Preisträger des Kleist-Preises vor, sich mittlerweile mehr als Gewerkschaften zu verhalten. Stattdessen sollten sie wieder stärker Glaubenserlebnisse vermitteln, sagte Kermani auf der Abschlussveranstaltung der Veranstaltungsreihe "Dialoge zum Frieden", die an den Westfälischen Frieden von 1648 erinnert.



Auch der Münsteraner Politikwissenschaftler Ulrich Willems sagte, gerade in Deutschland müsse der Umgang mit religiöser Vielfalt noch geübt werden. Der Wissenschaftler vom Hochschul-Exzellenzcluster "Religionen und Politik" sprach sich dafür aus, dass Menschen ihren Glauben auch durch die Art ihrer Kleidung öffentlich sichtbar machen dürfen.