Autor der MHG-Studie zieht nach fünf Jahren negatives Fazit

"Es fehlte die Einheit und Unabhängigkeit"

Im Jahr 2018 hat die Deutsche Bischofskonferenz eine Untersuchung zum Missbrauch in der Kirche vorgestellt. Der Psychiater Harald Dreßing war Koordinator der MHG-Studie. Die Kirche habe es versäumt, den Missbrauch gut aufzuarbeiten.

Harald Dreßing (l.), Verbundkoordinator der MHG-Studie; Kardinal Reinhard Marx und Bischof Stephan Ackermann bei der Vorstellung der MHG-Studie 2018 / © Harald Oppitz (KNA)
Harald Dreßing (l.), Verbundkoordinator der MHG-Studie; Kardinal Reinhard Marx und Bischof Stephan Ackermann bei der Vorstellung der MHG-Studie 2018 / © Harald Oppitz ( KNA )

DOMRADIO.DE: Fünf Jahre sind nun seit der Veröffentlichung der MHG-Studie vergangen. Die Kirche steht nicht besser da. Man kann eher sagen, dass sie schlechter dasteht. Wie schauen Sie auf die Entwicklung?

Prof. Dr. Harald Dreßing (Forensischer Psychiater und Verantwortlicher Koordinator der MHG-Studie): Ja, das kann man in der Tat sagen. Ich glaube, dass die katholische Kirche 2018 eine große Möglichkeit vertan hat, eine wirklich transparente, authentische Aufarbeitung zu beginnen. Unsere Studie war ja eine wissenschaftliche Untersuchung, das habe ich auch immer betont.

Gleichzeitig war sie verbunden mit der Bemerkung, dass die Studienergebnisse Basis oder Beginn einer Aufarbeitung sein können, die dann mit den Betroffenen zusammen auf Augenhöhe zu erfolgen hat.

Harald Dreßing

"Es fehlte die Einheitlichkeit und auch die völlige Unabhängigkeit von der katholischen Kirche."

Und was ich eigentlich auch immer betont habe, ist, dass diese Aufarbeitung gemeinsam in allen 27 Diözesen nach gleichem Muster erfolgen sollte – transparent und ganz unabhängig von der Institution der katholischen Kirche.

Das ist leider nicht geschehen. Stattdessen hatten die Diözesen begonnen, jeder für sich und nach eigenem Gusto, irgendetwas zu machen.

Die MHG-Studie

2014 hatte die Deutsche Bischofskonferenz das interdisziplinäre Forschungsverbundprojekt "Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz" in Auftrag gegeben. Das Projekt wurde durchgeführt von einem Forscherkonsortium aus Mannheim, Heidelberg und Gießen (deshalb MHG-Studie).

MHG-Studie / © Harald Oppitz (KNA)
MHG-Studie / © Harald Oppitz ( KNA )

So wurden dann abermals einzelne Untersuchungen oder Gutachten beauftragt, deren Sinnhaftigkeit ich auch ein Stück weit infrage stellen möchte.

Denn in allen Untersuchungen sind ja alle Ergebnisse der Studie mehr oder weniger eins zu eins immer wieder repliziert worden.

Einige Untersuchungen wurden mir auch angeboten. Ich hatte aber stets abgelehnt, weil ich sagte: Es geht jetzt nicht darum, noch einmal irgendwelche Gutachten zu erstellen, sondern jetzt muss die Aufarbeitung beginnen.

DOMRADIO.DE: Wenn ich zusammenfassen darf: Sie bemängeln, dass es nach der MHG-Studie keine einheitliche Aufarbeitung für ganz Deutschland gegeben hat. Und das ist ein Grund, warum Sie sagen, die Kirche habe diese Chance vertan.

Dreßing: Genau, es fehlte die Einheitlichkeit und auch die völlige Unabhängigkeit von der katholischen Kirche. Es sind ja dann auch im Zusammenwirken mit dem damaligen Unabhängigen Beauftragten Aufarbeitungskommissionen eingerichtet worden.

Nicht alle Diözesen haben – nebenbei bemerkt – bisher eine solche Aufarbeitungskommission implementiert. Zudem ist aber auch die Zusammensetzung der existierenden Kommission teilweise sehr umstritten, konfliktbehaftet und nach meinem Dafürhalten auch nicht völlig transparent.

Teilweise sind in solchen Kommissionen dann auch die Betroffenen wirklich instrumentalisiert worden – ich nenne das Stichwort Köln.

DOMRADIO.DE: Sie haben in der Studie auch systemische Ursachen benannt, die dafür verantwortlich sind, was passiert ist.

Jetzt fällt die Kirche sich aber quasi mit ihrem eigenen System selbst in den Rücken, weil es keine einheitliche Aufarbeitung geben kann bei so vielen Bistümern, die alle irgendwie auf ihre Art unabhängig sind. Ist das System komplett zum Scheitern verurteilt?

Dreßing: Das glaube ich nicht, denn bei der Vergabe der Studie ist man ja geschlossen aufgetreten. Die Studie wurde öffentlich ausgeschrieben, von allen 27 Diözesen und dem Verband der Diözesen Deutschlands (VDD) gemeinsam. Offensichtlich kann man sich grundsätzlich schon einigen.

Prof. Dreßing, Kardinal Marx und Bischof Ackermann / © Dedert (dpa)
Prof. Dreßing, Kardinal Marx und Bischof Ackermann / © Dedert ( dpa )

Es wäre wichtig gewesen, dass man auf dieser gemeinsamen Linie geblieben wäre. Ich halte es nicht für unmöglich. Aber es ist nicht geschehen. Ich denke, eine einheitliche Linie wäre nach wie vor möglich und sinnvoll. Ich bin der Letzte, der eine solche Hoffnung aufgeben würde.

Ich kann das nur als Außenstehender bemerken und denke, dass das bisherige Verhalten der katholischen Kirche in den Aufarbeitungsbemühungen sehr ungeschickt gewesen ist, denn in ihren Bemühungen hat die katholische Kirche – zumindest ist das meine Einschätzung und ähnliches höre ich auch von vielen Betroffenen und Gläubigen – eher ein Stück weit weiter an Glaubwürdigkeit verloren denn dazu gewonnen.

DOMRADIO.DE: Dabei hat sich in einzelnen Diözesen doch viel getan. Die Verwaltungsstrukturen wurden geändert und es wurden auch neue Untersuchungskommissionen eingerichtet. Es ist also schon auch etwas passiert.

Synodaler Weg

Der Begriff "Synodaler Weg" verweist auf das griechische Wort Synode. Es bedeutet wörtlich "Weggemeinschaft"; im kirchlichen Sprachgebrauch bezeichnet Synode eine Versammlung von Bischöfen oder von Geistlichen und Laien.

Der Reformdialog Synodaler Weg dauerte von Ende 2019 bis Frühjahr 2023. Dabei berieten die deutschen katholischen Bischöfe und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) zusammen mit weiteren Delegierten über die Zukunft kirchlichen Lebens in Deutschland.

Das gelochte Metallkreuz und Teile des Schriftzugs Synodaler Weg  / © Julia Steinbrecht (KNA)
Das gelochte Metallkreuz und Teile des Schriftzugs Synodaler Weg / © Julia Steinbrecht ( KNA )

Dreßing: Es ist etwas passiert, in der Tat, und zunächst war ich auch wirklich ein Stück weit optimistisch, als der Synodale Weg begann.

Da wurden ja eigentlich vier Themenfelder implementiert, und es waren genau die vier Themenfelder, die wir anhand unserer Ergebnisse auch empirisch als systemische spezifische Risikofaktoren für die katholische Kirche herausgearbeitet hatten.

Das war eben dieser klerikale Machtmissbrauch, dann die priesterliche Lebensform – Stichwort Zölibat – sowie die veraltete Sexualmoral und die Stellung der Frau.

Diese Themen hatten wir anhand empirischer Ergebnisse als spezifische katholische Risikofaktoren herausgearbeitet. Insofern fand ich den Beginn dieses Prozesses wirklich sehr positiv.

Was dabei herausgekommen ist, zumindest bisher, doch enttäuschend – jedenfalls meiner Ansicht nach, aber da bin ich bestimmt nicht der Einzige.

DOMRADIO.DE: Das mag auch daran liegen, dass die katholische Kirche zerstritten ist. Da gibt es ja verschiedene Lager. Auf der einen Seite konservative Bischöfe, auf der anderen die, die den Synodalen Weg noch schneller vorantreiben wollen.

Zudem ist in der jüngsten Vergangenheit, wenn man nach Osnabrück und Essen blickt, auch deutlich geworden, dass selbst reformfreudige Bischöfe vertuscht und – etwa in Essen – wider besseren Wissens Denkmäler eingeweiht haben. Hat Sie das überrascht?

Dreßing: Ehrlich gesagt hat es mich nicht überrascht. Eines unserer Ergebnisse in der MHG-Studie war ja, dass zehn Prozent der Beschuldigungen sich gegen Priester richteten, die ein höheres Kirchenamt innehatten.

Wir wollten das damals eigentlich noch ein bisschen detaillierter erfassen und hatten da auch schon Bischof, Generalvikar und so weiter als Frage-Items (Test-Item in Fragebögen, Anm. d. Red.) stehen. Darüber konnten wir uns mit der katholischen Kirche aber nicht einigen.

Die wollten das nicht so dezidiert nachgefragt haben, wie hoch diese Kirchenämter sind, sodass das Item in unserem Fragebogen dann nur "höheres kirchliches Amt" war – also alles ab Dekan aufwärts.

Offensichtlich sind in diesen zehn Prozent aber, wie wir jetzt im Nachgang sehen, doch auch einige Kleriker, die ein deutlich höheres Amt innehatten als ein Dekansamt.

MHG-Studie / © Harald Oppitz (KNA)
MHG-Studie / © Harald Oppitz ( KNA )

Da hat man uns sogar in der Konzeption des Fragebogens ein Stück weit Fesseln angelegt – offensichtlich mit dem Bemühen, Transparenz zu vermeiden, obwohl man ja Gegenteiliges vorgegeben hat.

DOMRADIO.DE: Wenn Sie das so sagen, dann kann man vielleicht auch immer mehr öffentliche Stimmen verstehen, die eine Wahrheitskommission und eine Übernahme der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen in der Kirche durch den Staat fordern. Aber die Politik scheint sich im Hinblick darauf ja eher zögerlich zu zeigen.

Dreßing: Das ist eine der ersten Sachen, die ich auch persönlich gefordert habe: unabhängige nationale Wahrheitskommission.

Harald Dreßing

"Die Politik ist da auch sehr schläfrig, sehr zögerlich."

Das geht eben auch nur mit Leitplanken der Politik und entsprechenden gesetzlichen Rahmenbedingungen. Diesbezüglich haben Sie vollkommen recht – die Politik ist da auch sehr schläfrig, sehr zögerlich.

Das gefällt mir auch nicht, wie wenig aktiv die Politik da ist. Das ist eher so ein gegenseitiges Schweigegelübde, das man sich da offensichtlich auferlegt. Keiner will dem anderen offenbar zu sehr wehtun.

DOMRADIO.DE: Woran mag das liegen, dass der Staat so zögerlich ist?

Dreßing: Das kann ich Ihnen auch nicht erklären. Wir fordern ja schon lange die Durchführung einer Dunkelfeldstudie. Da sagt die Politik auch, dass das ganz wichtig und notwendig sei. 

Bisher sind alle meine Bemühungen für eine Finanzierung einer solchen Studie durch den Staat jedoch fehlgeschlagen.

Offensichtlich will man auch im Rahmen der Politik mancherlei gar nicht so genau wissen und nicht alle Bereiche durchleuchten lassen.

Kerstin Claus, Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, am 09.08.2022 in Berlin. Seit April 2022 ist sie Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. / © Hans Scherhaufer (epd)
Kerstin Claus, Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, am 09.08.2022 in Berlin. Seit April 2022 ist sie Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. / © Hans Scherhaufer ( epd )

DOMRADIO.DE: Kerstin Claus, die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, hat die katholische Kirche in Deutschland aber durchaus gelobt.

Sie sei bislang die einzige Institution, die das Thema sexualisierte Gewalt immerhin in dieser Weise angegangen sei. Sie sehen das ja viel pessimistischer.

Dreßing: Nein, das würde ich in der Tat nicht sagen. Zwar waren meine Äußerungen jetzt zunächst einmal sehr kritisch. Die Tatsache, dass es eine solche Untersuchung gegeben hat, ist in der Tat zunächst einmal positiv zu sehen.

Allerdings ist die Vergabe einer solchen Untersuchung ja auch nicht ganz freiwillig gewesen. Da gab es ja einen erheblichen Druck im Vorfeld.

Pater Klaus Mertes / © Gordon Welters (KNA)
Pater Klaus Mertes / © Gordon Welters ( KNA )

Und letztendlich sind es die Bemühungen von Pater Mertes gewesen, die diesen Stein ins Rollen gebracht haben. Aber richtig ist: Es gibt keine andere Institution, die sich bisher entsprechend intensiv mit der Thematik beschäftigt hat.

Und was ich auch positiv hervorheben möchte, ist, dass es eigentlich keine Institution gibt, die solche intensiven Bestrebungen unternommen hat, was Prävention und Intervention angeht.

Da sind in der Tat auch Fortschritte zu sehen. Das sehe ich wirklich positiv, genauso wie Frau Claus. Allerdings heißt das nicht, dass andere Punkte, die kritisch zu sehen sind, nicht nach wie vor kritisch zu sehen sind.

DOMRADIO.DE: Was kann, soll, muss die katholische Kirche tun?

Dreßing: Nach wie vor wäre mein Rat – und ich bin natürlich nicht der Ratgeber der katholischen Kirche, sondern nur ein außenstehender Wissenschaftler – diese Aufarbeitung auch wirklich in unabhängige Hände zu geben.

Die katholische Kirche tut sich nichts Gutes damit, wenn sie glaubt, sie müsse immer weiter die Kontrolle und alles im Griff haben.

Je mehr diese Bestrebung da ist – und das ist natürlich auch ein Stück weit Klerikalismus – umso mehr entgleitet ihr eigentlich der Prozess.

Das Interview führte Johannes Schröer.

Chronik der Missbrauchs-Aufarbeitung bundesweit und in Freiburg

Januar 2010: Der Jesuit Klaus Mertes macht öffentlich, dass es an seiner Schule in Berlin sexualisierte Gewalt und Missbrauch gab - und die Fälle lange verschleiert wurden. Der Skandal löst eine Welle von Enthüllungen in der Kirche und in anderen Institutionen aus.

Februar 2010: Die katholischen Bischöfe bitten bei ihrer Vollversammlung in Freiburg um Entschuldigung. Ein Sonderbeauftragter (Bischof Stephan Ackermann aus Trier) wird benannt, eine Hotline für Betroffene eingerichtet.

Blick auf ein Wandkreuz während der Vorstellung des Missbrauchsgutachtens im Erzbistum München und Freising / © Sven Hoppe (dpa)
Blick auf ein Wandkreuz während der Vorstellung des Missbrauchsgutachtens im Erzbistum München und Freising / © Sven Hoppe ( dpa )
Quelle:
DR