Sozialpfarrer Franz Meurer zu Hartz-IV-Sanktionen

"Aufhören, die Leute runterzumachen"

Das bleibt so auch nach dem BVerfG-Urteil: Arbeitslose, die ein Jobangebot ausschlagen oder eine Fördermaßnahme abbrechen, setzen 30 Prozent der monatlichen Staatshilfen aufs Spiel. Der Kölner Sozialpfarrer Franz Meurer über einen menschlichen Umgang mit Armut.

Mann auf dem Weg zur Agentur für Arbeit / © Arne Dedert (dpa)
Mann auf dem Weg zur Agentur für Arbeit / © Arne Dedert ( dpa )

DOMRADIO.DE: Das Bundesverfassungsgericht hat am Dienstag entschieden, dass die monatelangen Leistungskürzungen für Hartz-IV-Bezieher, die ihren Pflichten nicht nachkommen, teilweise verfassungswidrig sind und abgemildert werden müssen. Nicht überprüft wurden allerdings die besonders scharfen Sanktionen für junge Hartz-IV-Empfänger unter 25 Jahren. Sie kennen viele betroffene junge Menschen in Ihrer Gemeinde. Was sagen Sie dazu? 

Pfarrer Franz Meurer (Kölner Sozialpfarrer): Das ist ja das Schlimme! Wenn Sie Jugendlichen unter 25 Jahren beim ersten Mal, wo sie einen Fehler machen, sofort radikal die Unterstützung kürzen oder sogar streichen, dann gehen die Leute in die Kriminalität! In den ärmsten Teilen Kölns, in Chorweiler oder in Mechernich, haben wir 26 Prozent Überschuldung. Auch in Gremberghoven ist jeder vierte private Haushalt überschuldet. 

DOMRADIO.DE: Das ist ein Stadtteil ganz in der Nähe Ihrer Gemeinde Höhenberg-Vingst, wo es auch nicht viel besser aussieht. Die sozialen Brennpunkte in Köln kann man im Schuldneratlas gut erkennen. Sie haben ja nun täglich Umgang mit Menschen, die Hartz-IV-Bezüge bekommen. Wie lässt sich damit auskommen?

Meurer: Ja, wunderbar! Gleich um acht Uhr fangen die Leute an, die unser Viertel sauber halten. Acht bis zehn Leute, meistens Männer. Die bekommen aber zuerst einmal Frühstück. Ich bin ja für Fordern und Fördern, genauso wie Hartz IV. Aber man muss zuerst die Menschenwürde praktisch leben. Das ist auch unser Beitrag als Christen. Wer nichts im Bauch hat, wie soll der denn die Schaufel schwingen, um zum Beispiel Laub weg zu machen? Das heißt: Der Ansatz, zu bestrafen, ist als solcher schon mal falsch. Man muss zum Guten ermuntern!

Ich sage ganz offen: Wenn ich bestimmen könnte, hätte jeder eine Pflicht zur Mitwirkung, aber vorher wird dazu eingeladen. Es gibt keinen, der nichts machen will, um es auch ganz klar zu sagen. Die psychischen Krankheiten unter den Menschen, die arm sind, sind unwahrscheinlich groß. Wir wissen doch selber, wie stark Altersdepressionen auch bei uns "Normalos" zunehmen. Darauf einzugehen und nicht die Gesellschaft zu kapitalisieren, ist eine zentrale Forderung gerade unserer christlichen Soziallehre. Ich bin richtig happy, dass jetzt durch das Urteil der erste Schritt in die richtige Richtung getan wurde. Der Gesetzgeber ist jetzt frei, sich neue Sachen zu überlegen. Aber zuerst einmal muss es aufhören, die Leute runterzumachen. 

DOMRADIO.DE: Das Gericht hat es als verfassungsgemäß bezeichnet, 30 Prozent der Leistungen zu kürzen, wenn der Empfänger nicht kooperativ ist. Die Jobcenter verhängten im vergangenen Jahr über 900.000 Sanktionen, hauptsächlich wegen nicht eingehaltener Termine. Kann man denn nicht von einem Bürger ohne Arbeit erwarten, zum Termin zu erscheinen?

Meurer: Ja, natürlich. Aber Sie denken jetzt – ich bin Ihnen da nicht böse – aus bürgerlichen Gesichtspunkten. Wenn Sie aber nicht lesen können, schmeißen Sie logischerweise alle Briefe weg. Oder sie haben jemanden, der für sie liest. Das Allerwichtigste ist, dass wir zum Beispiel für die Analphabeten organisieren, wie sie ihr Leben hinkriegen.

Ich bin nicht gegen Sanktionen, das ist gar keine Frage. Bei uns wissen zum Beispiel alle Kinder: Wenn du einen anderen anpackst, wirst du Sträfling in unserer Kinderstadt. Das sagen die Kinder selber. Sträfling heißt, sie müssen in der Küche helfen. Es braucht klare Regeln. Aber man muss den Leuten helfen, zu verstehen, was überhaupt von ihnen gefordert ist. Das heißt, darüber nachzudenken, was es bedeutet, wenn man die Arbeit verliert. Wären wir nicht auch sehr angeschlagen, wenn wir unsere große Wohnung verlieren und mit Kindern auf engem Raum leben müssen? Das habe ich hier: sieben Kinder auf drei Zimmern, ohne Keller, ohne Fahrradplatz. Der Mann arbeitet 100 Prozent fleißig wie die Eier. Und seine Frau sagt: Er darf niemals seinen Arbeitsplatz verlieren. Solche Leute muss man unterstützen.

Mir geht es bei allem eigentlich nur um eins: Es lohnt sich kaum, das Böse zu bestrafen. Es lohnt sich sehr, das Gute zu belohnen. Denn noch nie hat ein gesunder Apfel einen faulen wieder gesund gemacht. Immer nur umgekehrt. Das ist meine Logik.

DOMRADIO.DE: Wie machen Sie das denn konkret in Ihrer Arbeit vor Ort?

Meurer: Ganz einfaches Beispiel: Ich bezahle ziemlich vielen benachteiligten Jugendlichen ohne Ausbildung den Führerschein, dann können sie mit dem Führerschein vielleicht als Friedhofsgärtnergehilfe leben. Oder im neuen Beruf, den wir erfunden haben - Fachpraktika in sozialen Einrichtungen - arbeiten. Weihbischof Ansgar Puff und Dr. Manfred Lütz haben uns da sehr unterstützt. Wir haben bereits 300 Förderschülerinnen und -schüler in Demenzstationen und Krankenhäusern als Unterstützung und Hilfe vermittelt.

Um es mal ganz brutal auszudrücken: Das Problem sind doch nicht die Hartz-IV-Empfänger. Das Problem sind wir bürgerlichen Menschen, die eine gerechte Gesellschaft nicht hinbekommen. Und dazu ist mit dem gestrigen Urteil ein wichtiger Schritt geschehen. Die acht Richter kann man nur beglückwünschen.

Und wir als Christen müssen die Modelle vorleben, um das auch mal klar zu sagen. Wir haben jetzt einen Mann bei uns, der fünffach schwer vermittelbar ist. Morgens um acht Uhr kriegt er Frühstück. Er hat drei Kinder, die er in den Kindergarten bringt und dann geht er ran. Er arbeitet bei uns mit. Man kann von ihm aber nicht verlangen, irgendwas Schriftliches zu machen oder sich vor den Computer zu setzen.

Und wenn ich noch ein Beispiel bringen darf: Wir haben einen Mann, der jeden Tag unsere 34 Hundekot-Tütenbehälter auffüllt. Dessen Lebenstraum war, den Mofaführerschein zu machen. Wir haben eine Gebetsnovene gemacht, wir haben die Muttergottes persönlich in die Verantwortung genommen, wir haben uns auf Reißbrettstifte gekniet. Es geht nicht. Der Herrgott hat ihm nicht die Möglichkeit gegeben, die schriftliche Prüfung für den Mofaführerschein zu bestehen. Zum Glück gibt es noch eine kleine Nische. Es gibt irgendein Föppchen - so nenne ich das - das ist kein richtiges Moped, hat aber ein Motörchen. Das darf man in unserem Alter - der Mann ist so alt wie ich, 68 - noch ohne Führerschein fahren. Da hat er einen Anhänger dran, und er sorgt dafür, dass die Hunde eine Chance in unserem Viertel haben, sauber und rein zu bleiben.

DOMRADIO.DE: Das heißt, Sie schauen also individuell, was die Menschen bei ihnen tatsächlich leisten können?

Meurer: Ja, absolut. Und wir haben auch Erfolge. Wir haben zum Beispiel auch Leute aus der Drogensucht in feste Arbeitsverhältnisse gebracht. Das klappt immer wieder.

Das Gespräch führte Carsten Döpp.


Pfarrer Franz Meurer / © Melanie Trimborn (DR)
Pfarrer Franz Meurer / © Melanie Trimborn ( DR )
Quelle:
DR
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