Athener Pfarrer: Soziale Situation ist tickende Zeitbombe

"Armutsgrenze unterschritten"

Teilweise unterstützen die christlichen Kirchen in Athen ihre Gemeindemitglieder finanziell. Die soziale Situation in Griechenland wird nämlich immer brenzliger, erzählt der deutsche evangelische Pfarrer René Lammer im domradio.de-Gespräch.

Pro-europäische Demo in Athen am 18.6.15 (dpa)
Pro-europäische Demo in Athen am 18.6.15 / ( dpa )

domradio.de: Wie erleben Sie die Atmosphäre in Athen in diesen Tagen, in denen Tsipras und Varoufakis mit der EU um die Zukunft ihres Landes feilschen?

René Lammer (Pfarrer der deutschsprachigen evangelischen Gemeinde in Athen): Wenn man die Schlagzeilen in der deutschen Presse sieht und das mit der Situation hier vergleicht, dann ist da doch ein großer Unterschied festzustellen. So dramatisch, wie es in den Schlagzeilen klingt, ist die Situation hier nicht zu erleben. Gerade wenn Urlauber in Athen unterwegs sind, dann sind die Cafés voll und im Grunde strahlt das Ganze eine sommerliche Unbeschwertheit aus. Das ist der erste Eindruck, den die meisten Urlauber hier bekommen werden.

Dass es unter der Oberfläche brodelt und die Menschen beunruhigt sind, lässt sich natürlich auch nicht von der Hand weisen. Aber wir leben ja nun schon seit fünf Jahren in dieser Krise und immer wieder wird gesagt, dass es nun wirklich das letzte Ultimatum ist. Und dass das Damokles-Schwert an einem immer seidener werdenden Faden hängt und jetzt auch bald fallen wird. Die Leute sind der Katastrophenandrohungen auch ein bisschen müde geworden.

Trotzdem ist natürlich unglaublich viel Geld in die Schließfächer gewandert oder in europäische Länder transferiert worden - als Vorsichtsmaßnahmen. Jetzt gibt es das erste Mal auch Schlangen in den Supermärkten, weil die Leute für alle Fälle etwas bunkern wollen.  

domradio.de: Es gab in den vergangenen Tagen auch mehrere Demonstrationen - gegen und für Europa und den Euro. Wie schätzen Sie die Stimmung der Griechen insgesamt ein?

Lammer: Die ganz große Mehrheit will nicht aus der EU raus und die ganz große Mehrheit will auch nicht den Euro verlieren. Man weiß schon, was man an der Währung hat und dass sie Stabilität bedeutet. Und es ist eine kleine Minderheit, die tatsächlich zur Drachme zurückgehen will, weil sie sich davon eine größere nationale Souveränität verspricht. Aber das ist in Griechenland nicht mehrheitsfähig, so nehme ich das wahr.   

domradio.de: Sie haben schon gesagt, dass viele Griechen ihr Geld in Sicherheit bringen wollen. Die finanzielle Not ist also da?

Lammer: Die Griechen haben im Schnitt ein Drittel weniger Einkommen. Das führt dazu, dass die Menschen an ihre Reserven gehen müssen. Eine Kollegin hat jetzt ihre Lebensversicherung gekündigt, weil sie liquide Mittel braucht, um die monatlich entstehenden Löcher stopfen zu können. Der nächste zahlt nicht mehr in die Rentenversicherung ein. Wir haben es hier bei der sozialen Situation mit einer tickenden Zeitbombe zu tun. Da besteht für mich überhaupt keine Frage.

domradio.de: Und auch Ihre Gemeindemitglieder sind von materieller Not betroffen?

Lammer: Ja, auf jeden Fall. Wir haben Leute, die der Mittelschicht angehörten und ihr Leben lang die höchsten Beträge eingezahlt haben. Deren Renten sind jetzt von 2 000 auf 1 000 Euro gekürzt worden. Wir haben einen konkreten Fall einer Frau aus unserer Gemeinde, die einen Unfall hatte und für die nächsten Wochen und Monate eine Betreuung braucht. Sie muss eine Pflegekraft einstellen und dann bleiben noch 300 Euro zum Leben mit ihrem behinderten Mann. Das geht einfach nicht mehr. Da ist die Armutsgrenze eindeutig unterschritten.  

domradio.de: Haben Sie die Möglichkeit, diesen Leuten, die Sie aus der Gemeinde kennen, finanziell unter die Arme zu greifen?

Lammer: Ja, glücklicherweise. Aber wir müssen das tatsächlich als Gemeinde allein machen. Wir haben hier einen sehr florierenden Weihnachtsmarkt, der uns etwa 50 000 Euro im Jahr einbringt. Daraus finanzieren die katholische und die evangelische Kirche ihre Sozialarbeit. Da haben wir einige Rücklagen, mit denen wir in konkreten Fällen unterstützen können.

Aber im Grunde genommen müssten viele Leute von einer deutschen Sozialhilfe unterstützt werden. Denn die würden sie bekommen, wenn sie in der gleichen Situation in Deutschland wären. Viele Leute sind nach Deutschland gegangen. Aber dadurch werden Menschen aus ihrem jahrzehntelangen Umfeld entwurzelt, damit sie in Deutschland Sozialhilfe empfangen können. Das kann es auch nicht sein und da muss eine Lösung gefunden werden, wie man diesen Menschen vor Ort in Griechenland helfen kann.   

domradio.de: Das ist der Ist-Zustand. Wie, glauben Sie, geht es in den kommenden Wochen und Monaten in Griechenland weiter?  

Lammer: Das ist ein Blick in die Glaskugel. Aber es gibt jetzt eine Ermüdungserscheinung und wenn jetzt diese Regierung einen Neuanfang nicht schaffen sollte, dann fürchte ich das Schlimmste. Dann könnten sich radikale Alternativen auf der rechten Seite formieren. Das sind unvorhersehbare Folgen. Und deswegen ist es eine absolute Notwendigkeit zu klären, wie man diesem Land wirtschaftlich wieder auf die Beine helfen kann. Da muss die ganze Europäische Union ihren Beitrag leisten.

 

Die Fragen stellte Hilde Regeniter.

 


Quelle:
DR