Aramäische Zeichen auf dem Turiner Grabtuch gefunden

Indiz für Jesus?

Ist es wirklich das Grabtuch Jesu? Noch immer steht der Beweis aus, dass die in Turin aufbewahrte Leinenreliquie mit dem mysteriösen Abbild eines gekreuzigten Mannes das Leichentuch ist, in das Jesus gehüllt wurde.

Autor/in:
Burkhard Jürgens
 (DR)

Aber jetzt glaubt die italienische Historikerin Barbara Frale, ein weiteres, möglicherweise entscheidendes Indiz zu haben. Für das bloße Auge inzwischen unsichtbar, enthält der Stoff angeblich aramäische Schriftzeichen. Es ist die Sprache, die Jesus sprach. In christlichen Gemeinden kam sie bald außer Gebrauch. Wenn die Beobachtung zutrifft, so Frale, müsste das Tuch aus der Zeit vor dem Jahr 70 stammen.

Bei ihrer These stützt sich Frale, Handschriften-Expertin im Vatikanischen Geheimarchiv, auf eine Beobachtung des französischen Technikers Thierry Castex. Er will bereits 1994 mit einem physikalisch-optischen Verfahren schwache Zeichen auf dem Gewebe ausgemacht haben, die er nicht deuten konnte. Frale erhielt die betreffenden Computeraufnahmen von Castex und legte sie - ohne die Herkunft zu verraten - zwei Spezialisten für Hebraistik vor. Beide kamen laut der Forscherin unabhängig voneinander zum gleichen Ergebnis: Die noch lesbaren Buchstaben ergeben ein aramäisches Wort mit dem Sinn «wir haben gefunden».

Die Buchstaben finden sich dort, wo das Tuch das Gesicht bedeckte, etwas unterhalb des Kinns. Nach Darstellung Frales sind es bloße Spuren chemischer Reaktionen von einem Dokument, das einmal an dieser Stelle lag und dessen Schrift sich auf dem Gewebe abzeichnete wie bei eng aufeinanderliegenden Seiten eines mit Tinte geschriebenen Kodex. Vielleicht war es ein Zettel, der die Identität des Toten angab.

So belanglos der Inhalt scheint - allein die Verwendung des Dialekts Jesu wäre ein starkes Indiz für die Herkunft aus dem ersten Jahrhundert. Denn nach der Zerstörung Jerusalems durch die Römer im Jahr 70 habe das Aramäische in christlichen Gemeinden praktisch keine Rolle mehr gespielt, argumentiert Frale. Paulus schrieb schon in den 50er Jahren ausschließlich auf Griechisch; die Evangelien sind in der gleichen Verkehrssprache des Mittelmeerraums überliefert. Die aramäische Schrift, verbunden mit dem für Juden undenkbaren Totenkult - all das verweist für die Historikerin auf die erste Generation der Christengemeinde. «Es sind Hypothesen», betont sie. Aber «die Indizien zeigen eine Fährte, die es wert ist, weiterverfolgt zu werden».

Es wäre nicht die erste aufsehenerregende Entdeckung der 39-jährigen Wissenschaftlerin. 2001 grub sie in den Vatikan-Archiven das Chinon-Pergament aus: die päpstliche Lossprechung vom Vorwurf der Häresie für den Großmeister des Templerordens aus dem Jahr 1308. Es ist ein Schlüsseldokument aus der Geschichte der sagenumwobenen Kreuzritter. Mit anderen Historikern hält Frale für glaubwürdig, dass es die Templer waren, die nach dem Vierten Kreuzzug von 1204 in den Besitz der Grabtuch-Reliquie gelangten und sie bis zu ihrem mysteriösen Auftauchen in Frankreich im 14. Jahrhundert hüteten.

Der Orden steht im Ruf der Geheimbündlerei; nicht umsonst bringt ihn die Überlieferung mit dem Heiligen Gral in Verbindung. Um das Grabtuch - falls sie es besaßen - machten die Tempelritter ein ähnlich großes Gewese. Warum? Des Rätsels mögliche Lösung liegt für Frale in der aramäischen Schrift: Es war Kreuzzugszeit; immer wieder kochte Antijudaismus hoch. Da mochte man die Reliquie des wahren Abbilds Christi nicht gerade mit «jüdischen» Attributen zur Schau stellen.

Dass der Ursprung des 4,36 Meter langen und 1,10 Meter breiten Leinens im antiken Nahen Osten liegt, dafür verweist Frale auf die lange Überlieferungskette. Berichte über ein wundersames Abbild Christi reichen zurück bis ins vierte Jahrhundert - auch wenn die Identität mit dem Turiner Tuch eher vermutet als bewiesen ist. Eine Radiokarbon-Untersuchung der 1980er Jahre datierte das Gewebe ins Mittelalter. Frale glaubt, dass die Analyse falsch verlief.

Jetzt könnten die Schriftzeichen auf dem Tuch die Diskussion neu beleben. Erst Anfang 2008 schoss eine Spezialfirma 1.650 hochauflösende Detailbilder des geheimnisvollen Gewebes. Ob die Aufnahmen die These Frales erhärten oder widerlegen, steht dahin. Die Wissenschaftlerin konnte die Bilder bislang nicht sehen. Ihre Argumente will sie im November in einem Buch vorlegen. Es handele sich ausdrücklich um eine private Forschung, betont sie; ihr Arbeitgeber Vatikan habe nichts damit zu tun.

Erstmals nach zehn Jahren soll das heilige Leinen vom 10. April bis zum 23. Mai 2010 öffentlich gezeigt werden. Mit Papst Benedikt XVI. werden dazu Millionen von Pilgern in Turin erwartet. Spätestens dann wird auch wieder die Frage nach der Herkunft des Grabtuchs ausgebreitet.