Ansprache zum 9. November von Kardinal Woelki

Unchristliche Gesinnung

An das Schweigen der meisten Christen angesichts der Novemberpogrome erinnerte der Berliner Erzbischof Kardinal Woelki. "Warum erwiesen sich Christen den verfolgten Juden nicht als Nächste?" Hier seine Ansprache im Wortlaut.

Kardinal Woelki (dpa)
Kardinal Woelki / ( dpa )

"Der 9. November ist ein Tag der Erinnerung. Wir, die wir uns heute hier versammelt haben, erinnern an die Novemberpogrome in ganz Deutschland im Jahre 1938. Der Tag war ein Tag brutaler unmenschlicher Gewalt, an dem die nationalsozialistischen Verbrecher und ihre Helfershelfer ihre Masken gänzlich fallen ließen und den Terror zu ihrem Rechtsprinzip erkoren. Wir müssen aber auch an das Schweigen erinnern, das ganz Deutschland beherrschte und auch in den Kirchen nicht wirklich gebrochen wurde.

Hier in Berlin tat Einer seinen Mund auf, Bernhard Lichtenberg, der am Tag nach den Zerstörungen in der Messe sagte: "Was gestern war, wissen wir. Was morgen ist, wissen wir nicht. Aber was heute geschehen ist, haben wir erlebt. Draußen brennt der Tempel. Das ist auch ein Gotteshaus." Dass er sprach, beschämt die anderen, die schwiegen zu dem, was alle sehen konnten. Hätten nicht Christinnen und Christen aufschreien müssen angesichts der Schändung von Gotteshäusern? Hätten sie nicht wissen müssen, was Bernhard Lichtenberg 1941 als einfache Wahrheit sagte: "Lasst Euch durch diese unchristliche Gesinnung nicht beirren, sondern handelt nach dem strengen Gebote Jesu Christi: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst.’"

Warum, so bleibt uns die schwere Frage, erwiesen sich Christen den verfolgten Jüdinnen und Juden nicht als Nächste? Wir gedenken der Opfer des Pogroms, der Erniedrigten, Gequälten und Ermordeten, die die Ersten der unendlich großen Schar waren.

Mit den Novemberpogromen beginnt eine Geschichte des Leidens der jüdischen Europäer, die unvergleichlich ist. Es waren keine Fremden, es waren Freunde, Nachbarn, ja Verwandte, die sich dem Wahnsinn des Rassismus ausgeliefert sahen. Sie trugen Namen, und wir, die wir an den Einen Wahren Gott glauben, haben zum Trost die Gewissheit, dass bei ihm ihre Namen unvergessen eingeschrieben sind.

Schon vor dem 1. September 1939 hatten die Nazis den Krieg begonnen: Es war ein Krieg gegen deutsche Bürger, gegen deutsche Kultur und auch gegen die deutsche Geschichte. Im November 1938 begann das, was 1945 endete. Die Flammen, die deutsche Synagogen zerstörten, waren Vorzeichen des Kommenden.

Heute gehen wir einen Weg der Erinnerung, des Gedenkens und der Trauer über all die Leben, die nicht gelebt wurden, über all das unendliche Leid und den Verlust, den jeder und jede immer noch bedeutet. Am Ende unseres Weges steht die Synagoge in der Oranienburger Straße. Wenn wir ankommen, geht der Schabbat zu Ende. Dass es wieder Menschen gibt, die diesen ältesten Feiertag der Geschichte in Berlin mit Freude feiern, ist uns ein Zeichen der Hoffnung in dem Dunkel dieses Tages."


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