Annäherung an Wolf Biermann aus religiöser Sicht

"Schreibt alles auf"

Der Liederdichter Wolf Biermann feiert am Dienstag seinen 80. Geburtstag. Fast gleichzeitig jährt sich der Tag seiner Ausbürgerung aus der DDR zum 40. Mal. Sein Leben hat aber auch religöse Bezüge.

Autor/in:
Andreas Oehler
Liedermacher Wolf Biermann / © Bernd Settnik (dpa)
Liedermacher Wolf Biermann / © Bernd Settnik ( dpa )

Es war der 13. November 1976: Nach zwölf Jahren Publikations- und Auftrittsverbot im SED-Staat hatte er in Köln ein vierstündiges Konzert absolviert. Da erreichte ihn die Nachricht: "Die zuständigen Behörden haben Wolf Biermann das Recht auf den weiteren Aufenthalt in der Deutschen Demokratischen Republik entzogen." Der Grund: Er habe die DDR verleumdet und verraten.

Ein Riesenschock für den streitbaren Kommunisten, ging er doch als 17-Jähriger in "das bessere Deutschland", um "den Parteiauftrag" seiner Mutter Emma zu erfüllen, eine neue sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Er studierte Mathematik und Ökonomie und kam zum Berliner Brecht-Theater, wurde von Hanns Eisler gefördert. Er gründete eine eigene Bühne, die jedoch nach der Generalprobe seines ersten Stückes "Berliner Brautgang" geschlossen wurde.

Unbekannte religiöse Bezüge

Er rang mit den Genossen im Politbüro um den richtigen Weg zu einer humaneren Gesellschaft und verbündete sich dabei mit dem Regimekritiker Robert Havemann. Die beiden avancierten zu den populärsten Dissidenten des SED-Staates, allein ihre Popularität im Westen schützte sie vor Inhaftierung.

Die politische Biografie Wolf Biermanns ist weitgehend ausgeleuchtet. Darin gibt es aber auch eher unbekannte religiöse Bezüge, die in seiner Lebensgeschichte zu teils tragischen Wendungen führten. Vater Dagobert Biermann, Sohn aus einer orthodoxen jüdischen Familie, war als Kommunist zum strengen Atheisten geworden.

Vater starb im KZ

Als Mitglied des kommunistischen Widerstandes wurde ihm 1939 wegen Vorbereitung zum Hoch- und Landesverrat der Prozess gemacht. Als der Richter ihn nach seiner Konfession fragte, antwortete der Angeklagte: "Ich! Bin! Jude!" Im Januar 1943 wurde er nach Auschwitz deportiert, wo er noch drei Monate lebte. Die Frage, warum sich ein Atheist in höchster Lebensgefahr plötzlich doch zu seiner Religion bekennt, wissend, dass das zum sicheren Tod führt, ist eines der ungelösten Lebensrätsel, die Wolf Biermann bis heute umtreiben.

Seine Oma Meume, eine zentrale Figur im kommunistischen Widerstand in Hamburg, war als Kind in einem Waisenhaus in Halle mit pietistischem Liedgut aufgezogen worden. Ihre groteske Ambivalenz zum Glauben beschrieb Wolf Biermann in dem Lied "Großes Gebet der alten Kommunistin Oma Meume". Darin steht das widersprüchliche, flehende Zitat: "Oh Gott, lass du den Kommunismus siegen!" Oma Meume und Mutter Emma ließen den kleinen Wolf sicherheitshalber protestantisch taufen, um ihn vor Rassenverfolgung zu schützen.

Zeuge bei Prozess

Als Biermann 1953 in die DDR-Stadt Gadebusch übersiedelte, wurde er in seiner Schule bald Zeuge eines Schauprozesses. In einer FDJ-Versammlung sollten 20 Mitglieder der christlichen "Jungen Gemeinde" ihren Austritt aus der evangelischen Jugendorganisation erklären. Ein Mädchen weigerte sich: "Ich glaube an Gott, und ich trete nicht aus der evangelischen Gemeinde aus." Daraufhin wurde sie von der FDJ-Sekretärin niedergebrüllt. Biermann meldete sich zu Wort:

"Ich bin Kommunist. Ich bin gegen die Kirche. Ich weiß, Religion ist Opium für das Volk. Aber das, was hier gemacht wird, das ist kein Kommunismus." War sein Protest ein Akt christlicher Nächstenliebe aus einem antichristlichen Impuls?

Bibelkenner

Gemäß seinem Lehrer Bertolt Brecht ist auch Wolf Biermann ein profunder Bibelkenner. Er hat die Bach-Passionen verinnerlicht, in vielen seiner Lieder hat er Motive aus der geistlichen Musik eingearbeitet. An Gott glauben kann er dennoch nicht. Er glaubt an den Menschen: In seinem Lied "Gesang an die Genossen" steht das Credo: "Und meine ungläubigen Lippen / Beten voller Inbrunst / Zu Mensch, dem Gott / All meiner Gläubigkeit."

In dem Lied "Nur wer sich ändert, bleibt sich treu" steht sein Bekenntnis: "Ich bleibe, was ich immer war: halb Judenbalg und halb ein Goy", ein Nichtjude. Dass Biermann Israel als Seelenheimat versteht, hat nichts mit Religion zu tun. Dort traf er Holocaust-Überlebende aus der Generation seines Vaters und aus seiner eigenen.

Das tröstet, wo doch all seine väterlichen Verwandten von den Nazis ermordet wurden. Als Kind musste er zusehen, wie sie auf Lastwagen verladen und in den Tod gefahren wurden. Der Satz des jüdischen Historikers Simon Dubnow, den dieser kurz vor seiner Erschießung ausrief, ist Biermanns Leitmotiv: "Schreibt alles auf! Und schreibt alles nieder!" Denn "das wahrhaft niedergeschriebene Leid wird in der Erinnerung niedergerungen".


Quelle:
KNA