Analyse der Situation in Ägypten nach der Gewalt von Kairo

Viele Fragen und wenig Zuversicht

Nadim K. Ammann war in Kairo, als am Sonntagabend so viele Menschen bei einer Demonstration getötet und verletzt wurden. In seinem Bericht schildert der Leiter des Referats Hilfe für die Mission im Erzbistum Köln seine Eindrücke und blickt auf die Folgen für die ägyptische Gesellschaft.

 (DR)

Eigentlich war es zu erwarten, eigentlich war es klar, dass die Christen in Ägypten das Wort ergreifen würden, es war klar, dass sie Anschläge auf ihre Kirchen und Einrichtungen nicht weiter hinnehmen würden. Doch dass die Demonstration mit fast 30 Toten und fast 200 Verletzten enden würde, das hatte wohl niemand erwartet.



Seit dem Anschlag auf die Kirche der zwei Heiligen in Alexandria Anfang des Jahres kam es vor allem in Oberägypten immer wieder zu einzelnen Anschlägen auf Kirchen. Von einem System oder von gezieltem Vorgehen wollen selbst die Christen in Kairo nicht ausgehen. Zu sehr sind sie an solche Dinge gewöhnt. In einem Land mit fast 90 Millionen Einwohnern, davon mindestens 10 Prozent Christen, kann man nur von einzelnen Anschlägen sprechen, solche Dinge passieren auch in anderen Ländern.



Doch im Januar gab es ja auch die Revolution, die vor allem von der Jugend motiviert war, Muslime und Christen, ein Unterschied wurde nicht gemacht, das war ja das Besondere der Revolution. In den vergangenen Monaten bekam man aber fast den Eindruck, dass es hier nur noch um die Zukunft der Muslime geht. Zu sehr haben die fundamentalistischen Gruppen die Führung der Revolution in die Hand genommen. Zu sehr geht es darum, wie es nach der Wahl aussehen wird, wenn die Muslimbrüder bei der Regierungsbildung beteiligt würden.



Was ist in Maspiru passiert?

Als es nun zu einem Anschlag auf ein christliches Zentrum in der Nähe von Assuan kam, hat es den Christen gereicht. Schließlich sind sie ja auch Ägypter und schließlich haben sie auch die Revolution gemacht. Also haben sie am Sonntag eine Demonstration organisiert, die das Medienzentrum Maspiru zum Ziel hatte. Sie wollten auf ihre Rechte aufmerksam machen, einfordern, dass die Verantwortlichen der Anschläge auf die Kirchen vor Gericht gestellt werden und die Armee und die Polizei auffordern, endlich ihre Aufgabe zu tun und alle Bürger gleichermaßen zu schützen.



Doch was ist in Maspiru passiert? Hat jemand aus der Menge plötzlich eine Waffe in der Hand gehabt und geschossen? Oder hat jemand gezielt die Soldaten angegriffen? Oder hat sich ein Mob unter die Leute geschlichen? Warum hat die Armee in solcher Vehemenz reagiert? Nach Zeugenaussagen sollen Panzer in die Menge gefahren sein und Menschen tödlich verletzt haben. Warum wurde bei einer Demonstration der Christen so harsch reagiert, während die Demonstrationen am Freitag auf dem Tahrirplatz mit weit mehr Demonstranten ohne Tote verliefen?



Wer verlässt gerne seine Heimat?

Ich saß mit dem Sekretär der Bischofskonferenz, P. Rafik Greiche, nach der Messe beim Abendessen in Heliopolis, als sein Telefon klingelte und sein Bischof, der im Griechisch-Katholischen Patriarchat wohnt, das sich hinter dem Koptischen Krankenhaus befindet, anrief. Unentwegt würden Krankenwagen Tote und Verletzte in das Krankenhaus bringen. Es sei katastrophal. Ich bekam einen Anruf von einem Freund, der in der Innenstadt wohnt und mir abriet, am Abend noch nach Zamalek zurückzufahren, weil die Straßen abgeriegelt würden. P. Greiche stellte sich die Frage, ob das Militär das Chaos verursacht habe, um zu beweisen, dass nur das Militär Ordnung schaffen kann und daher die Macht nicht an eine Zivilregierung abgegeben werden kann. Oder wollte man den Christen eine Lektion erteilen? Oder sollten die Muslime besänftigt werden? Später erfuhr ich, dass Muslime in der Innenstadt unterwegs waren und nach Autos von Christen gesucht haben. Was wollten sie? Wollten sie tatsächlich Jagd auf Christen machen? Das hat es in Ägypten noch nicht gegeben! Autos von Christen lassen sich leicht an den Rosenkränzen, die am Rückspiegel hängen, erkennen.



Später am Abend saß ich mit einem Freund vor dem Fernseher und sah mir die schrecklichen Bilder von Maspiru an. Er erzählte, dass er die Ausreisepapiere nach Australien bereits in der Schublade hat. Aber jedes Mal, wenn er sie ausfüllen will, legt er sie wieder weg, weil er sein Land nicht verlassen möchte. Es ist die Verantwortung gegenüber seinen drei Kindern, die ihn dazu bewegt, sich mit der Auswanderung zu beschäftigen. Doch wer verlässt gerne seine Heimat? Tausende sollen seit Januar schon ausgereist sein, vor allem Christen. Die meisten haben Verwandtschaft in Amerika, Canada oder Australien. Andere haben ein gut laufendes Geschäft und können sich eine Zukunft im Ausland leisten. Andere haben ihre Familien ins Ausland gebracht, pendeln aber, um ein Standbein in Ägypten zu haben.



Der Mittelstand und die Oberschicht können mit diesen Gedanken spielen. Vielleicht werden einige 100.000 Christen in ein paar Jahren Ägypten verlassen haben, weil sie für sich keine Zukunft sehen. Doch was passiert mit den Millionen christlichen Bauern in Oberägypten? Sie haben keine Verwandten im Ausland, sie haben gerade mal das was sie brauchen um zu leben. Wo sollen sie hin? Nach Libyen? In den Sudan? Für sie gibt es keine Alternative, als in Ägypten zu bleiben, und so gibt es auch für die ägyptische Regierung keine Alternative, als so schnell wie möglich die Unruhen zu unterbinden. Noch handelt es sich um vereinzelte Anschläge, noch kann man nach den Verantwortlichen suchen und sie zur Rechenschaft bitten. Wenn es aber zu weiteren Konflikten zwischen Ägyptern kommt, dann sieht es nicht gut aus für Ägypten.



Etwas hat sich verändert

Meine muslimische Arabischlehrerin sagte heute Morgen, dass gestern ein sehr trauriger Tag für Ägypten gewesen sei, denn das Schlimmste was passieren könnte, ist, dass Ägypter sich untereinander streiten und umbringen. Am 6. Oktober haben die Ägypter noch gemeinsam ihren Nationalfeiertag begangen und vier Tage später sterben friedliche Demonstranten. War die Feier nur eine Show?



Auch wenn das Leben am Tag danach wieder seinen Lauf genommen hat, die Schüler in die Schule gehen, die Studenten in die Unis und die Leute zu ihrer Arbeit, etwas hat sich seit gestern verändert, die Zukunft ist noch unsicherer geworden. Keiner wagt einen Ausblick. Nein, dass eine Demonstration so enden würde, hat wirklich niemand erwartet.



Der Schock sitzt tief

Am Abend nach dem blutigen Sonntag sitze ich mit ein paar Freunden bei einem Bier in einer Kneipe. Meine muslimischen und christlichen Freunde kommentieren das aktuelle Geschehen. Auf dem Weg nach Heliopolis sind wir am Koptischen Krankenhaus vorbeigefahren. Jugendliche haben die Ramsesstraße davor gesperrt. Tausende - also deutlich mehr als bei der gestrigen Demo - stehen vor dem Krankenhaus. Es sind vor allem Kopten, die auf die Leichname ihrer Angehörigen warten. Aber auch Muslime, die die Kopten unterstützen.



Am Tisch wird Gott gedankt, dass es heute nicht schlimmer wurde. Für die meisten ist es ein weiteres einzelnes Geschehen. Kamel meint, dass Gott das Land schützt. Bei der Masse an Menschen, ohne Regierung, ohne Polizei, würde das Leben doch sehr diszipliniert verlaufen. Ob ich eine Veränderung merken würde, werde ich gefragt. Oder ob ich Angst habe. Klar muss ich beides verneinen. Das Leben in Kairo läuft wie eh und je. Es ist zwar chaotisch, das war es aber vor der Revolution auch. Ehab meint, dass er keinen Grund zur Auswanderung sehe. Er arbeitet als Vize-Direktor einer Bank, ist dort angesehen und liebt sein Land. Seine muslimische Kollegin Jasmin ist traurig über den gestrigen Vorfall. Sie kann sich nicht erklären was dort vorgefallen sei. Die Revolution wurde von der ägyptischen Jugend getragen, sie wollen Freiheit und vor allem Frieden. Einen Krieg zwischen Muslimen und Christen? Das kann doch niemand wollen. Sie selbst spielt mit dem Gedanken, das Kopftuch abzulegen. Auch das gehört zu den neuen Freiheiten der Revolution. Bei der gestrigen Demo ging es ja um Rechte der Bevölkerung, im speziellen Fall der Kopten, aber Aufgabe des Militärs sei es doch die Bevölkerung zu schützen, alle gleichermaßen. Daher ist es für die Muslime selbstverständlich, dass sie mit den Kopten mitfühlen, sie fühlen sich um ihre von der ägyptischen Jugend getragenen Revolution betrogen.



Trotzdem sitzt der Schock tief. Die große Frage bleibt unbeantwortet: Warum sterben Menschen bei einer Demonstration von Christen? Warum eskaliert es genau dann? Die Kopten geben die Schuld der Armee. Schließlich waren es ja nur 2.000 Demonstranten, eine Zahl, die die gepanzerte Armee problemlos in Schach halten kann, wie kann es sein, dass ein Panzer in die Menge fährt?



Man kann nur hoffen

Die Koptisch-Orthodoxe Kirche hat drei Tage Fasten angekündigt, die katholischen Kirchen wollen jede für sich für die Toten, die Menschen und das Land beten. Ich frage mich ob eine gemeinsame Aktion der Kirchen, wie damals in Indien, als alle katholischen Schulen für einen Tag geschlossen blieben, in Ägypten auch eine Möglichkeit wäre, auf den Beitrag der Kirche in der ägyptischen Gesellschaft hinzuweisen. Die Menschen warten jedenfalls nicht mehr auf ihre Kirchen, zieht die Amtskirche nicht mit, werden sie weiter für ihre Rechte demonstrieren.



Auf dem Weg zurück nach Zamalek ist die Ramsesstraße um 23:30 immer noch abgeriegelt. Die Kopten haben 17 Leichname erhalten und gehen nun vom Krankenhaus zur Kathedrale. Wir halten auf der Brücke an, die Kopten rufen, dass die Armee die Schuld trage. Es sind mehrere tausend Menschen, also deutlich mehr als gestern Abend. Man kann nur hoffen, dass alles friedlich bleibt.