Amnesty: Menschenrechtslage in Ägypten erreicht neuen Tiefpunkt

Ein Jahr nach dem Sturz von Mohammed Mursi

Am 3. Juli 2013 setzte Ägyptens Armee den islamistischen Präsidenten ab. Die Muslimbrüder erleben seitdem eine massive Verfolgungswelle. Die Lage der Menschenrechte ist laut Amnesty International auf einem neuen Tiefpunkt.

Autor/in:
Jan Kuhlmann
Mursi-Unterstützer (dpa)
Mursi-Unterstützer / ( dpa )

Der General hatte seine Hände auf das Rednerpult gelegt, die Arme durchgedrückt. Uniform und Barett saßen akkurat, an der Brust blinkten die Militärabzeichen, hinter ihm leuchtete die ägyptische Flagge. Der General sprach mit fester Stimme. Seine Rede am 3. Juli 2013 dauerte nur einige Minuten. Millionen Ägypter auf Plätzen und vor den Fernsehgeräten hörten ihm gebannt zu, denn was Abdel Fattah al-Sisi an diesem Tag vor einem Jahr verkündete, sollte das Land verändern: Ägyptens Armeechef setzte in diesem Moment den ersten freigewählten Präsidenten des Landes ab.

Das Ende der Regierung des islamistischen Staatschefs Mohammed Mursi, einem Muslimbruder, löste überall im Land Jubel und Proteste zugleich aus. Auf den Straßen Kairos, vor allem auf dem Tahrir-Platz, feierten die Menschen, schließlich hatten sie bei Massendemonstrationen den Rücktritt des von ihnen gehassten Präsidenten gefordert. Für sie war das Eingreifen des Militärs ein legitimer Akt, um die Revolution fortzusetzen und Ägyptens Weg in die Demokratie zu sichern.

Christliche Kopten hatten sich an Protest gegen Mursi beteiligt

Viele christliche Kopten hatten sich an den Protesten gegen Präsident Mursi beteiligt. Die Gewalt gegen Christen hatte in seiner Amtszeit deutlich zugenommen. Kopten waren oft Ziel von gewalttätigen Übergriffen radikaler islamistischer Kräfte. Christliche Kopten machen etwa zehn Prozent der ägyptischen Bevölkerung aus.

Der Umsturz in Ägypten war nach Einschätzung des deutschen Theologen Frank van der Velden in Kairo "keine Kampfansage gegen islamische Werte". Die Bevölkerung und das Militär hätten Mohamed Mursi "nicht deswegen abgesetzt, weil er islamische Werte vertritt - deswegen wurde er gewählt -, sondern weil er die wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes nicht angepackt hat", sagte van der Velden, Mitarbeiter der deutschen katholischen Gemeinde in Kairo, kurz nach dem Umsturz vor einem Jahr. Mursis "Unfähigkeit zu regieren" habe die Unzufriedenheit geschürt.

Putsch vs. Revolution - Ägyptische Gesellschaft gespalten

Mursis Anhänger sprechen von einem "Putsch" gegen den legitimen Präsidenten. Tatsächlich war der Staatschef in freien Wahlen an die Macht gekommen. Für die Muslimbrüder sollte es noch schlimmer kommen. Knapp sechs Wochen später räumten Sicherheitskräfte gewaltsam Protestlager der Mursi-Unterstützer in Kairo. Tausende starben oder wurden verletzt. Bis heute geht zwischen Anhängern und Gegnern des Ex-Staatschefs ein tiefer Riss durch die Gesellschaft.

Die Lage der Menschenrechte in Ägypten hat nach Ansicht mehrerer Menschenrechtsorganisationen einen neuen Tiefpunkt erreicht. Massenverhaftungen und Folter durch Sicherheitskräfte sowie Todesstrafen für Hunderte Häftlinge in den vergangenen Monaten erinnerten an die dunkelsten Tage der Regierungszeit von Ex-Diktator Hosni Mubarak, erklärten die Menschenrechtsorganisationen Human Rights Watch und Amnesty International.

Übergriffe auch gegen Flüchtlinge und Frauen

Auch Beschränkungen im Bereich Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit hätten entgegen demokratischer Bestrebungen während der ägyptischen Revolution wieder zugenommen, so die Menschenrechtler. Zudem habe es Übergriffe gegen Flüchtlinge und Frauen gegeben, die oft ungeahndet blieben.

"Der neu gewählte Staatspräsident Abdel Fattah al-Sisi muss diesem zügellosen Missbrauch ein Ende bereiten", verlangte die Leiterin der Amnesty-Sektion für Nahost und Nordafrika, Hassiba Hadj-Sahraoui. So müsse er jeden Häftling freilassen, der frei seine Meinung geäußert habe und der Gewalt gegen Demonstranten durch Sicherheitskräfte Einhalt zu gebieten. Zudem müssten die Tötungen von mehr als 1.000 Demonstranten innerhalb des vergangenen Jahres strafrechtlich untersucht werden. Geschehe das nicht, müssten internationale Untersuchungen durch den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen eingeleitet werden.

Gerichtsverfahren seien geprägt von gravierenden Mängeln und genügten nicht rechtsstaatlichen Kriterien. Bereits die Teilnahme an nicht genehmigten Demonstrationen werde oft mit langen Haftstrafen geahndet. Neben Muslimbrüdern würden zunehmend andere Oppositionelle und Journalisten festgenommen.

Amnesty: 1400 Menschen starben bei Demonstrationen

Nach Schätzungen von Amnesty sind im vergangenen Jahr alleine bei Auflösungen von Demonstrationen 1.400 Menschen ums Leben gekommen. "Die beteiligten Soldaten und Polizisten müssen keine Strafverfolgung fürchten", kritisierte die deutsche Nahost-Expertin der Organisation, Ruth Jüttner. Sie sprach von einer "selektiven und politisierten Justiz".

Die Muslimbrüder haben seit ihrer Gründung 1928 viele Krisen erlebt. Über Jahrzehnte verfolgte der ägyptische Staat die islamistische Organisation. Führungsmitglieder kamen ins Gefängnis, wo sie gefoltert wurden. Den Aufstieg der Muslimbrüder konnte das nicht verhindern. Vor allem ihr soziales Engagement ließ sie zu einer der einflussreichsten Organisationen im Land aufsteigen.

Wissenschaftlerin über Arroganz der Muslimbrüder vor Umsturz 

Nach dem Sturz von Langzeitherrscher Husni Mubarak 2011 konnten sie dank ihrer gut ausgebauten Struktur die Wahlen gewinnen. Doch genauso schnell wie ihr Aufstieg an die Macht verlief auch der Niedergang der Ikhwan, wie sie auf Arabisch heißen. Die Muslimbrüder seien vor allem an einer Selbstüberschätzung ihrer Stärke gescheitert, sagt die Hamburger Wissenschaftlerin Annette Ranko, die gerade ein Buch über die Bewegung veröffentlicht hat. Statt anderen Gruppen die Hand zu reichen, hätten sie nicht-islamistische Oppositionelle vor den Kopf gestoßen. So wuchs der Widerstand gegen die Brüder, bis schließlich Massen bei Protesten gegen Mursi auf die Straße zogen.

General Al-Sisi, mittlerweile neuer Präsident Ägyptens, versprach bei seiner Rede, das Land Richtung Demokratie zu führen. Davon kann nach Ansicht von Kritikern kaum die Rede sein. Die Muslimbrüder erleben seit Mursis Sturz eine massive Verfolgungswelle. Der Staat verbot sie als "terroristische Organisation". Tausende sitzen in Haft, Hunderte wurden zum Tode verurteilt. Gegen Mursi und andere Muslimbrüder laufen Prozesse. Die Regierung erklärte auch etliche Gruppen für illegal, die einst den Aufstand gegen Mubarak entfachten.

Al-Sisi genießt Popularität im Volk

Trotzdem genießt Al-Sisi im Volk große Popularität. Die "Revolution gegen die Muslimbrüder" habe Ägypten vor einem Bürgerkrieg bewahrt, sagt Politikprofessor Gamal Salama. Und auch der Politiker Effat al-Sadat, ein Neffe des früheren Präsidenten Anwar al-Sadat, kennt kein Erbarmen mit den Islamisten. Das Militär habe das "faschistische Regime der Muslimbruderschaft beendet, das Ägypten teilen wollte", sagt er. "Wir müssen nur nach Syrien, Libyen und in den Irak schauen, um zu sehen, welch großartige Rolle unsere Armee gespielt hat."

Manche Analysten haben schon das Ende der ägyptischen Muslimbruderschaft vorhergesagt. Die Gruppe ist gelähmt und kaum noch in der Lage, die Menschen für ihre Sache zu mobilisieren. Die Bewegung aber gibt sich kämpferisch. Das Ende der Muslimbrüder sei ein "Wunschdenken der Feinde der Demokratie", heißt es aus dem Londoner Büro der Muslimbrüder, das jetzt ein Sprachrohr der Bewegung ist: "Millionen von Ägyptern sind entschlossen, den Militärputsch zu beenden und den demokratischen Prozess wiederzubeleben."


Quelle:
dpa , KNA , DR