Am Tag nach dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs

Drei Minuten zwischen Leben und Tod

Die Folgen des Unglücks sind noch unklar. Drei Minuten - so viel Zeit ist den rund 20 Mitarbeitern und Nutzern des Kölner Stadtarchivs am Dienstagmittag geblieben, um sich aus dem instabil gewordenen Bauwerk in Sicherheit zu bringen.

Autor/in:
Markus Peters
 (DR)

Verdächtige Geräusche im Gebäude und Warnrufe von Bauarbeitern hatten die Menschen aufgeschreckt. Zwei Mieter aus benachbarten Wohnhäusern, die zusammen mit dem Archiv eingestürzt waren, konnten sich dagegen offenbar nicht retten und wurden am Mittwoch noch vermisst. Die Suche nach den beiden Anwohnern gestaltete sich weiter schwierig, da in der Umgebung des Unglücksorts weitere Häuser als einsturzgefährdet gelten. Feuerwehrdirektor Stephan Neuhoff sagte, es werde vermutlich noch bis Donnerstagnachmittag dauern, ehe die Unglücksstelle so weit abgesichert sei, dass im Schuttberg nach möglichen Opfern gesucht werden könne. Es sei so gut wie ausgeschlossen, sie noch lebend zu finden.

Für Kölns Kulturdezernent Georg Quander ist jedoch schon «ein Wunder», dass es am Dienstag im Historischen Archiv selbst keine Toten gab. Doch nun liegen die Dokumente aus über 1000 Jahren Kölner Stadtgeschichte unter einem dicken Schuttberg. Sollten sie alle verloren sein, dann sei der Schaden noch gravierender als beim verheerenden Brand der Anna Amalia Bibliothek in Weimar im September 2004, befürchtet der Kulturdezernent. Damals fielen rund 50 000 historische Bücher den Flammen zum Opfer.

Doch noch hat Quander Hoffnung. Mit großformatigen Planen werde die Unglücksstelle gegen den im Tagesverlauf erwarteten Regen abgesichert, Hilfe von Archivaren aus ganz NRW sei zugesagt worden. Sollten allerdings Dokumente im Inneren der U-Bahnbaustelle vom eindringenden Grundwasser beschädigt werden, dürften sie kaum noch zu retten sein. Gleichzeitig wies Quander erneut Vorwürfe zurück, man habe Hinweise auf gravierende Bauschäden am Stadtarchiv ignoriert. Erst im Dezember habe ein Gutachter die Risse und Verschiebungen an dem Gebäude als unbedenklich eingestuft.

Am Mittwochmorgen war es zunächst gespenstig ruhig an der Unglücksstelle. Lediglich ein Polizeihubschrauber zog seine Kreise über der Ruine. Bereitschaftspolizei hatte die Umgebung der Severinstraße abgesperrt und die jungen Polizisten sorgten für gute Umsätze in den benachbarten Kiosken und Bäckereien. Nur wenige Schaulustige wollten am rotweißen Flatterband der Polizei einen Blick auf den großen Schuttberg werfen, kaum Kundschaft verzeichnete die Sexshops, Frisiersalons und Pfandhäuser in der Nachbarschaft.

Dass «irgendwann mal was wegen der U-Bahnbaustelle passiert», habe sich jeder denken können, sagte die Angestellte eines Asien-Imbisses. Doch dass es gleich so schlimm kommen würde, habe sie nicht erwartet. Die «Sicherheit der eigenen vier Wände» sei natürlich Thema Nummer eins, meinte ein Mann, der nach eigenen Angaben nur «zwei Minuten» neben dem Stadtarchiv wohnt.

Besorgt blicken die Anwohner auf das seit Jahren leerstehende ehemalige Polizeipräsidium, das nur wenige Schritte von dem Stadtarchiv entfernt steht. Wenn das 15-stöckige Hochhaus einstürzen würde, «hammer widder Kriech» (haben wir wieder Krieg), sagte eine ältere Frau. Die Bodenrisse von der Unglücksstelle reichen jedenfalls schon bis zum früheren Behördenparkplatz.

Der Unterricht in zwei Gymnasien in der Nähe des Stadtarchivs fiel am Mittwoch aus. Am Dienstag hatten sich hier dramatische Szenen abgespielt. Ein Lehrer hatte die sich vom Stadtarchiv nahende gigantische Staubwolke gesehen und seinen Biologie-Kurs aufgefordert, sich auf den Boden zu legen. Nahezu zeitgleich alarmierte der Hausmeister die anderen Klassen. Die Schüler brachten sich auf den Pausenhof in Sicherheit. Verletzt wurde niemand.

Inzwischen scheint festzustehen, dass es im Bereich des 28 Meter tiefen U-Bahn-Schachts einen Erdrutsch gab, der dem Stadtarchiv praktisch den Boden weggezogen hat. Warum es zu diesem Erdrutsch kommen konnte, ist noch unbekannt. Dennoch sehen die Kölner Verkehrsbetriebe als Bauherr der Stadtbahn keine Veranlassung für einen Baustopp an der vier Kilometer langen Streckentrasse. Die Situation an der Severinstraße sei mit keinem anderen Teilstück vergleichbar. Wer für den folgenschweren Einsturz verantwortlich ist, soll nun die Staatsanwaltschaft klären.