Abzug von Rebellen aus Ost-Aleppo verzögert sich

"Wir haben Gott um Gnade angefleht"

Auf Druck Russlands und der Türkei haben sich Syriens Regime und Rebellen auf einen Abzug der Oppositionsmilizen aus Aleppo geeinigt. Doch der syrischen Führung gefällt das Abkommen offenbar nicht.

Rebellen stehen vor dem Abzug aus Aleppo / © SANA HANDOUT (dpa)
Rebellen stehen vor dem Abzug aus Aleppo / © SANA HANDOUT ( dpa )

Der geplante Abzug von Kämpfern und die Evakuierung von Zivilisten aus den Rebellengebieten der umkämpften syrischen Stadt Aleppo hat sich am Mittwochmorgen verzögert. Hintergrund seien Unstimmigkeiten zwischen dem Regime und seinem Verbündeten Russland über die Einigung mit den Aufständischen, erklärte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Bislang habe noch niemand die Stadt verlassen.

Syriens Führung unzufrieden mit dem Abkommen

Demnach ist Syriens Führung unzufrieden mit dem Abkommen, weil es ihm von Russland aufgezwungen worden sei. Moskau habe die Einigung zudem ohne Abstimmung mit ihr verkündet. Das Regime sei entschlossen gewesen, den Konflikt um Aleppo militärisch zu entscheiden. Die Armee und ihre Verbündeten hatten zuletzt mehr als 90 Prozent der bisherigen Rebellengebiete nach heftigen Kämpfen eingenommen.

Russland als Verbündeter der Regierung und die Türkei als Unterstützer der Rebellen waren federführend bei den Verhandlungen. Das am Dienstag verkündete Abkommen sieht vor, dass Kämpfer und Zivilisten die Stadt in Richtung der von Rebellen kontrollierten Provinz Idlib verlassen. Nach Angaben aus der türkischen Regierung dürfen die Regimegegner ihre leichten Waffen behalten.

Nach Angaben der Menschenrechtsbeobachter und von Aktivsten aus Ost-Aleppo herrschte am Morgen weitgehend Ruhe in der Stadt. Journalisten berichteten, erste Busse für den Transport von Kämpfern und Zivilisten stünden bereit.

Der führende syrische Oppositionelle Hadi al-Bahra machte ebenfalls Syriens Regierung für die Verzögerung verantwortlich. Das Regime mache einen Rückzieher, erklärte der frühere Vorsitzende des größten Oppositionsbündnisses, der Syrischen Nationalen Koalition.

Syriens Präsident Baschar al-Assad warf dem Westen vor, in Aleppo "Terroristen" zu unterstützen. Ihre Erklärungen zu der Stadt könnten als Bitte an Russland übersetzt werden, "das Vorrücken der syrischen Armee gegen die Terroristen zu stoppen", sagte Assad dem TV-Kanal Russia Today. Syriens Regime bezeichnete alle Oppositionsmilizen als Terroristen, auch gemäßigtere Gruppen.

Vertreibung sei "die Hölle"

Einwohner aus Ost-Aleppo nahmen das Abkommen mit gemischten Gefühlen auf. Für viele sei es "sehr schmerzvoll", weil sie "ihr Heimatland verlassen müssen", erklärte der Aktivist Abdulkhafi al-Hamdo. "Wir können zwischen zwei sehr schwierigen Möglichkeiten wählen", sagte er. "Unter der Kontrolle des Regimes zu bleiben ist schlimmer als die Hölle. Aber die Vertreibung selbst ist die Hölle."

"Wir wissen nicht, ob wir zurückkommen können", sagte ein anderer Aktivist mit dem Namen Jassir. "Das ist ein sehr schwerer Moment." Viele Einwohner befürchten Racheakte des Regimes, sollten sie in die Hände von Regierungstruppen fallen. Diese haben nach UN-Angaben bei ihrer Offensive in Ost-Aleppo mindestens 82 Zivilisten getötet.

In den verbliebenen Rebellengebieten sind noch Zehntausende Menschen in wenigen Vierteln eingeschlossen. Weil Ost-Aleppo seit Monaten vom Regime blockiert wird, ist die humanitäre Lage dort katastrophal. Es herrscht akuter Mangel an Trinkwasser, Lebensmitteln und medizinischer Versorgung. Große Teile Ost-Aleppos sind zerstört.

Aktivisten wiesen Meldungen zurück, syrische Regierungskräfte hätten die Kontrolle über die gesamten Rebellengebiete Aleppos gewonnen. Der russische UN-Botschafter Witali Tschurkin hatte am Dienstag in New York erklärt, die syrischen Regierungstruppen hätten die vollständige Kontrolle über die Großstadt übernommen.

Christliches Viertel unter Beschuss

Bei den letzten Angriffen ist auch das christliche Viertel in Westaleppo am Dienstag erneut unter Raketenbeschuss geraten. Unter anderem sei eine Rakete im Jesuitenkonvent eingeschlagen, berichtete der katholische Pfarrer von Aleppo, Franziskanerpater Ibrahim Al-Sabagh. "Wir danken dem Herrn, dass die Schäden in unserem Gebiet nur materieller Art sind, aber der Krieg dauerte die ganze Nacht an und wir haben in jedem Moment seinen Lärm gehört", so Al-Sabagh.

Rund 500 Rebellenkämpfer haben sich nach Angaben des Franziskaners auf einem Gebiet von rund einem Quadratkilometer verschanzt und von dort aus den Westen der Stadt beschossen. Bis Dienstagnachmittag sind demnach mindestens acht Menschen getötet und mehr als vierzig verletzt worden. Problematisch seien auch bewaffnete kurdische Kämpfer in Teilen der Stadt sowie korrupte regierungstreue Milizen.

Ferner gebe es einen von der syrischen Armee umkreisten Bereich von mehreren Quadratkilometern, in denen Kämpfer der Al-Nusra-Front sowie einer weiteren Gruppe die Kapitulation ablehnten. Die Armee habe den Beschuss eingestellt und warte darauf, dass sich die verbliebenen Rebellen ergeben. Unterdessen halte die Flucht aus diesem Gebiet an. Es stünden Busse bereit, um Zivilisten in sichere Gebiete zu bringen.

Dramatische Lage in Aleppo

Unterdessen werden die Nachrichten aus Ost-Aleppo immer dramatischer. Wohl Zehntausende sind in nur noch wenigen Vierteln eingeschlossen, schutzlos Kämpfen und Bombardierung ausgesetzt. Wochenlange heftige Luftangriffe haben große Teile des Gebiets zerstört. Mehr als 460 Zivilisten sind seit Mitte November durch Angriffe der Regierung getötet worden. Trinkwasser, Lebensmittel und medizinische Versorgung werden immer knapper, weil Ost-Aleppo blockiert wird.

Fotos von Aktivisten zeigen Menschen, die auf der Suche nach Schutz vor der Gewalt durch die Straßen irren. "Der Regen macht alles noch schwieriger", berichtet Wissam Sarka, ein Englischlehrer aus Aleppo, in einer Audionachricht. Ein anderer Aktivist schreibt, das Gebäude nebenan sei von einem Luftangriff getroffen worden. Tote lägen unter den Trümmern. Es gebe niemanden mehr, der sie bergen könnte.

Wer in den schrumpfenden Rebellengebiete zurückgeblieben ist, rechnet mit dem Schlimmsten. Darunter sind viele oppositionelle Aktivisten, Feinde des Regimes. Die UN berichteten von Hunderten Männern, die nach ihrer Flucht in Regierungsgebiete verschwunden sind, Schicksal unbekannt. Aktivisten befürchten, sie könnten in Folterhaft sitzen oder gleich zur Armee eingezogen werden.

UN-Generalsekretär spricht von Versagen der Weltgemeinschaft

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon hatte seiner Organisation angesichts der Situation Kapitalversagen bei der Lösung des Konflikts in Syrien attestiert. "Wir alle haben die Menschen in Syrien bislang kollektiv hängenlassen", sagte Ban bei einer kurzfristig einberufenen Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats am Dienstag in New York. "Dieses Versagen zwingt uns, mehr zu tun, um den Menschen in Aleppo jetzt unsere Solidarität zu zeigen.

Sicherheitsexperten und Verteidigungspolitiker warfen dem Westen schwere Verfehlungen im Syrien-Konflikt vor. "Man kann nicht die Absetzung eines Diktators fordern, dann die Hände in den Schoß legen und hoffen, dass er freiwillig abtritt: mit dem Verlust seiner Glaubwürdigkeit hat der Westen auch die Fähigkeit verspielt, der syrischen Bevölkerung zu Hilfe zu kommen", sagte der Chef der Münchener Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, zur "Bild"-Zeitung (Mittwoch). Der außenpolitische Sprecher der Grünen, Omid Nouripour, kritisierte eine verspätete Reaktion des Westens. "Der Westen hat nicht nach Syrien geschaut, als es 250 000 Tote gab, sondern erst, als die ersten 10 000 Flüchtlinge kamen", sagte Nouripour dem Blatt. "Diese Ignoranz hat ein Vakuum geschaffen, das (Russlands Präsident Wladimir) Putin mit Bomben gefüllt hat."

Der russische Chefdiplomat Sergej Lawrow beriet mit Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier in einem Telefonat über die Lage in Aleppo. Dabei sei es auch um humanitäre Hilfe für die Menschen in der Stadt gegangen, teilte das Ministerium in Moskau mit. Ein Sprecher der Bundesregierung bestätigte, dass auch Kanzlerin Angela Merkel mit Russlands Präsident Wladimir Putin telefoniert und mit ihm über die katastrophale Lage im Osten Aleppos gesprochen habe.

Zuvor hatte die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Samantha Power, die Verbündeten Russland, Iran und Syrien für die Gräueltaten in Aleppo verantwortlich gemacht. Zudem zeigten sie keinerlei Gnade für die Zivilisten, sagte sie. Die Vereinten Nationen hatten regierungstreuen Truppen vorgeworfen, in den vergangenen Tagen der Offensive mindestens 82 Zivilisten getötet zu haben.

Rebellen sprechen von "Massakern"

Aus den Nachrichten, die aus Aleppo kommen, spricht nur noch wenig Hoffnung auf Rettung. Und sie wird von Stunde zu Stunde kleiner. "Es gibt keinen Zufluchtsort mehr", berichtet der Aktivist Abdulkhafi al-Hamdo in einer Videonachricht aus den Rebellengebieten, wo er bis jetzt mit Frau und kleiner Tochter ausgeharrt hat. Ein anderer schreibt über Twitter: "Wir haben Gott um Gnade angefleht."

Der Regen prasselt während Al-Hamdo spricht. Seine Nachricht hat er "Letzter Ruf" genannt, und seine Worte klingen nach Abschied von dieser Welt. "Wir erleben eins der schlimmsten Massaker in der neueren Geschichte", sagt Al-Hamdo, dem immer wieder die Stimme stockt. "Wir wollten nichts anderes als Freiheit." Aktivisten wie er machen für ihr Schicksal nicht nur das Regime und seinen Verbündeten Russland verantwortlich, sondern auch den Rest der Welt, von dem sie sich im Stich gelassen fühlen: "Glaubt den Vereinten Nationen nicht mehr", sagt er. "Glaubt der internationalen Gemeinschaft nicht mehr."


Quelle:
dpa , KNA