"Lux in tenebris" im Kölner Dom zum Gedenken an Kriegsende - Veranstaltung fällt aus!

"75 Jahre Frieden sind keineswegs selbstverständlich"

Mit dem Brudermord von Kain an Abel fing alles an. Er steht für das, was Menschen einander antun können. Daher ist das auch eine Geschichte, die in Helge Burggrabes Friedensoratorium eine zentrale Rolle spielt. Der Komponist erklärt, warum. ACHTUNG: Veranstaltung fällt aus!

Zerstörtes Köln nach dem Krieg (dpa)
Zerstörtes Köln nach dem Krieg / ( dpa )

DOMRADIO.DE: Herr Burggrabe, am 8. Mai wird im Kölner Dom mit Ihrem Oratorium "Lux in tenebris" – zu deutsch: Licht in Dunkelheit – dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren gedacht. Sie selbst bezeichnen Ihr Werk bewusst als Friedensoratorium. Wie aktuell ist das Werk?

Helge Burggrabe (Komponist): Es geht um die Fragen: Wie können wir in Frieden miteinander leben? Und wie entstehen Gewalt und Krieg? Was sind die einzelnen Etappen und Vorbedingungen auf dem Weg dorthin? Das beginnt im Kleinen zunächst mit Entfremdung, aus der eine gesellschaftliche Spaltung werden kann, die sich in Hass steigert. Und schließlich ist es nicht mehr weit bis zu gewaltsamen Auseinandersetzungen bis hin zu Krieg. Man muss sich nur in der Welt umschauen, um zu sehen, dass die Entstehung dieser Spirale ein hochaktuelles Thema ist. 75 Jahre Frieden in Mitteleuropa sind eine Besonderheit und keineswegs selbstverständlich. Schließlich steckt potenziell in jedem von uns etwas von Kain und von Abel, diesen ungleichen Brüdern des Alten Testaments. Das heißt, jeder kann Täter und Opfer sein. Und jeder sollte sich fragen: Säe ich mit meinen Gedanken, Worten und Taten Zwietracht oder stifte ich Frieden?

DOMRADIO.DE: Welche Idee liegt dieser Auftragskomposition zugrunde, die Sie 2015 ursprünglich zur 1200-Jahr-Feier des Bistums Hildesheim geschrieben haben? Welche geistliche Aussage hat das Werk?

Burggrabe: Mir war damals schnell klar, dass dieses Werk einen geistlichen Grundgedanken haben sollte, der zugleich auch das konkrete Kriegsdrama der Stadt Hildesheim thematisiert. Dafür schien mir die Dialektik von Licht und Finsternis mit allen Schattierungen und Ambivalenzen passend. Das Licht steht als eine mögliche Metapher für Gott, doch es gibt auch das Irrlicht, die Überblendung oder Verblendung. Ebenso ist auch das Dunkle ambivalent und hat negative wie auch positive Aspekte. "Lux in tenebris" war also von Anfang an der Versuch, vielschichtig und differenziert das universelle Thema von Licht und Finsternis zu erzählen. Und deshalb lässt es sich ohne weiteres auch auf andere Orte übertragen, vor allem natürlich auf Köln als eine Stadt, die besonders stark vom Krieg getroffen wurde.

DOMRADIO.DE: Die Textgrundlage zur Musik bildet eine Mischung aus Bibelstellen, aber auch Gedichten von Rainer Maria Rilke, Hilde Domin, Rose Ausländer und Paul Celan sowie neuen Texten von Angela Krumpen. Welche Bedeutung messen Sie als Komponist dem Wort bei?

Burggrabe: Die Worte sind der Ausgangspunkt und eine wesentliche Inspirationsquelle für die Komposition. Sie sind sozusagen der rote Faden, um den sich ein musikalischer Mantel legt. Wenn eine Vertonung gelingt, kann die Wirkung eines Wortes größer werden, weil es in Räume geht, die jenseits des Sagbaren liegen. Musik ist eben eine universelle Sprache, in der die Kraft von Begegnung und Versöhnung liegt.

Das Libretto von "Lux in tenebris" habe ich gemeinsam mit den Autoren Angela Krumpen und Reinhard Göllner erstellt. Vergleicht man den Text mit einem Kirchenbau, so bilden die Auszüge aus dem Alten und Neuen Testament in meinen Augen die Statik und Architektur, während die Gedichte sowie die neu geschriebenen Texte, die dem Licht eine Stimme geben, gewissermaßen die Glaskunst darstellen und zur Beseelung des Gebäudes beitragen. Insgesamt gehen alle Text-Elemente der Grundfrage nach: Wie zeigt sich das Göttliche im Irdischen und wie kann trotzdem – im Sinne der biblischen Szene von Kain und Abel – im Zwischenmenschlichen eine solche Verfinsterung möglich werden, dass ich im anderen nicht mehr den Bruder, das Kind Gottes erkenne? Also: Was können wir dafür tun, dass es zu der letzten Stufe dieser Eskalationsspirale gar nicht erst kommt?

DOMRADIO.DE: Trotz seiner gesellschaftsrelevanten Bedeutung wurde "Lux in tenebris" bislang ausschließlich in kirchlichen Räumen aufgeführt. Wie sehen Sie Ihr Werk in Bezug auf das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft?

Burggrabe: Mit der Aufführung einer solchen Komposition setzt die Kirche ein klares Statement für den Frieden. Es wird deutlich gemacht, dass jede und jeder hier seinen Beitrag leisten kann und es auf den Einzelnen ankommt. Ich finde es großartig, wenn die Kirche den Mut hat, neue Werke in Auftrag zu geben und heutiger Kunst zutraut, einen Beitrag zur Verkündigung im weitesten Sinne und zum gesellschaftlichen Diskurs leisten zu können. Dieser aktuelle Bezug ist im Übrigen für mich die einzige Rechtfertigung, nach Bach, Brahms oder Mendelssohn überhaupt noch eine geistliche Komposition zu wagen. Denn eigentlich ist doch mit ihren zeitlos gültigen Meisterwerken alles schon gesagt. Doch dann merkt man, dass es möglich und wichtig ist, auch vertraute Themen aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten und mit einem neuen Ansatz der Erzählung aufzugreifen. Wenn es dabei dann um grundsätzliche Lebens- und Glaubensfragen geht, die mich persönlich gerade bewegen, dann packt es mich geradezu, und ich lasse mich auf zwei oder drei Jahre intensive Arbeit an einem neuen Oratorium ein.

Als Aufführungsort für ein geistliches Werk ist in der Tat zunächst der Kirchenraum vorgesehen. Oft stellt das Werk auch Bezüge zu thematischen Darstellungen in Skulpturen oder Glasfenstern her und greift die akustische Situation von sakralen Bauwerken mit ihrem großen Nachhall auf. Trotzdem wäre es sicherlich auch einmal reizvoll, ein solches geistliches Werk in einem "weltlichen" Kontext aufzuführen.

DOMRADIO.DE: Die Licht-Finsternis-Thematik bildet die große Klammer, den roten Faden. Wie kann man sich das konkret vorstellen?

Burggrabe: Das Licht wird seit alters her als Metapher für Gott verwendet, vermutlich vor allem deshalb, weil es – wie Gott – nicht greifbar, aber seine Wirkung überall sichtbar ist. Das Licht wird von einer Tenorstimme verkörpert und begleitet stetig die Handlung des Oratoriums. Nach der brutalen Szene von Kain und Abel und den Kriegsbildern folgen in der größten Umnachtung und Verzweiflung des Menschen das Erbamen Gottes und die Entscheidung, Mensch zu werden. Der Logik des Oratoriums folgend stellt die Geburt Jesu also die Menschwerdung des Lichtes dar, und kurz darauf erklingt das Jesus-Wort: "Ich bin das Licht der Welt." Nun ist ein Stern in der Welt, dem wir Menschen folgen können, so wie schon die Weisen dem Stern folgten. Damit kommt hier in Köln dem Stern auf dem Vierungsturm des Domes und dann natürlich auch dem Dreikönigenschrein eine zentrale Bedeutung zu. Wir Menschen brauchen schließlich nicht nur in dunklen Zeiten solche klaren Zeichen dafür, dass das Leben weitergeht. "Madonna in den Trümmern", diese Marienstatue, die inmitten der totalen Zerstörung wie ein Hoffnungszeichen stehen geblieben war, ist übrigens auch ein solcher Lichtpunkt und Rettungsanker für die Menschen in Köln nach dem Krieg gewesen, für den sie dann noch einmal eine eigene Kapelle errichtet haben.

DOMRADIO.DE: Doch auch diese Hoffnung ist in Ihrem Oratorium nicht von Dauer. Um welche inhaltliche Zuspitzung geht es dann in der Musik?

Burggrabe: Trotz der Gegenüberstellung von Licht und Finsternis geht es nicht um einfache Lösungen. Im Gegenteil: Auch die Hoffnung und das Licht sind wieder gefährdet. Alles ist viel komplexer. Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass der Mensch immer wieder von Neuem die Freiheit hat, sich für das eine oder das andere zu entscheiden. Der Lichtträger selbst – Jesus Christus – gerät durch Menschen in existentielle Gefahr und wird letztlich umgebracht. Da wiederholt sich die zwischenmenschliche Umnachtung der "Urszene" von Kain und Abel, und es stellt sich die Frage, warum wir dieses Drama bis zum heutigen Tag immer wieder von Neuem aufführen müssen. Das Oratorium wagt am Ende vorsichtig eine Vision: Wir könnten auch anders, indem wir beispielsweise der Aufforderung der Lyrikerin Hilde Domin und ihrem Gedicht "Abel, steht auf" folgen, das ein Plädoyer für das Leben ist. Anders gesagt: Wir könnten uns auf unsere Geschwisterlichkeit besinnen.

DOMRADIO.DE: Ist das die eigentliche Botschaft von "Lux in tenebris"?

Burggrabe: Ja. Und als Antwort auf die Frage, wie das gelebt werden kann, ist eben die Selbstaussage Jesu "Ich bin das Licht der Welt" hilfreich. "Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis." Diese Gegenwart Gottes ist bedingungslos da, war immer da und wird immer da sein. Aber jeder muss sich fragen: Wie steht es um meine ganz persönliche Nachfolge, um meine Offenheit, meine Beziehung zu Gott? Ist es Gottesnähe oder doch eher eine Gottesferne? Dabei kann uns die Bibel als Geländer, als Orientierungspunkt dienen – vor allem die Bergpredigt, die im Oratorium aufgegriffen wird. Hier entfaltet Jesus eine Botschaft, die ein friedliches Zusammenleben fördert.

DOMRADIO.DE: Sie sind dafür bekannt, dass Ihre Kompositionen Gesamtkunstwerke aus Architektur, Videokunst, Lyrik und Musik, manchmal sogar auch Tanz sind. Was erwartet die Zuhörer konkret?

Burggrabe: Allein schon ein gotisches Bauwerk wie der Dom verfolgt ja das Prinzip eines Gesamtkunstwerkes: mit seiner Glaskunst, seinen Skulpturen, seiner Lichtgestaltung und seinen Proportionen. Und so macht es, finde ich, Sinn, dass auch ein Werk, das hier aufgeführt wird, den Ansatz eines Gesamtkunstwerkes hat, das alle Sinne anspricht. Allerdings muss sich alles dem Thema unterordnen. Es darf nicht um Selbstzweck oder Effekthascherei gehen. Vielmehr soll eine Geschichte noch stimmiger und kraftvoller unter Einbeziehung unterschiedlichster Elemente erzählt werden. Bei "Lux in tenebris" handelt es sich um ein klassisches Oratorium mit Solisten, einer Sprechstimme (Julia Jentsch), Streichern, Percussionisten, Bläsern, zwei Organisten und mehreren Chören: den Kölner Domchören und zwei Chören aus Berlin und Brügge. Dann kommt noch die Lichtkunst von Michael Suhr hinzu, um die Architektursprache mit neuen Akzenten zu versehen und die Handlung zu unterstützen. Außerdem werden Bilder des zerstörten Köln eingespielt, um die ganze Wucht des Krieges erlebbar zu machen.

DOMRADIO.DE: Dabei betonen Sie sehr den Aspekt der Versöhnung...

Burggrabe: Ja, in meinem Stück geht es über den lokalen Kontext der Stadt Köln hinaus um eine – wie gesagt – universelle Erzählung von Krieg und Frieden. In diesem Zusammenhang steht Köln deutschlandweit als Synonym für eine totale Zerstörung, so dass sich die Menschen mit diesem Thema – also den Auswirkungen von Krieg und der Dringlichkeit von Frieden – überall verbinden können. Nach den erschütternden Kriegserfahrungen und getrieben von einer großen Sehnsucht nach Frieden, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg das Grundgesetz und die UN-Menschenrechte formuliert und damit demokratische Grundformen für ein neues Zusammenleben in Frieden installiert. Das waren Sternstunden der Menschheitsgeschichte. Und heutzutage wird immer klarer, dass wir uns für diese Errungenschaften immer aktiver einsetzen müssen.

DOMRADIO.DE: Nach dem Marienoratorium "Stella maris" und "Jehoschua" ist "Lux in tenebris" nun Ihr drittes Oratorium, das in der Interpretation der Kölner Domchöre zu hören sein wird. Was bedeutet Ihnen persönlich der Aufführungsort Kölner Dom?

Burggrabe: Ich empfinde es als große Ehre, dass nun zu diesem zentralen Anlass des 75-jährigen Kriegsendes in diesem großartigen zeitlosen Bauwerk wiederholt ein Oratorium von mir in Zusammenarbeit mit der Kölner Dommusik aufgeführt wird – diesmal unter der Leitung von Winfried Krane. Zugleich ist mir bewusst, dass es in Anbetracht der langen Geschichte des Domes nur einem Wimperschlag entspricht. Grundsätzlich ist dieser Kirchenraum ja sehr viel mehr als nur eine kunsthistorische Sehenswürdigkeit, nämlich ein Ort der Gottesnähe mit einem lebendigen Gemeindeleben. Deshalb freue ich mich umso mehr, wenn meine Komposition dabei hilft, gesellschaftliche Denkanstöße zu geben und Glaubensimpulse zu setzen. Letztlich soll der Dom und alles, was darin geschieht, ja einzig der Annäherung des Menschen an Gott dienen.

Das Interview führte Beatrice Tomasetti (DR)


Der Komponist Helge Burggrabe hat mit dem Dreikönigsoratorium das erste Oratorium für den Dom überhaupt geschrieben / © Beatrice Tomasetti (DR)
Der Komponist Helge Burggrabe hat mit dem Dreikönigsoratorium das erste Oratorium für den Dom überhaupt geschrieben / © Beatrice Tomasetti ( DR )
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