Misereor-Experte über die Lage in Kamerun

"Der Ursprung des Problems liegt in der Kolonialzeit"

Seit mehreren Monaten kommt es zu Streiks und Unruhen in Kamerun. Misereor-Experte Frank Wiegandt hat sich ein Bild von der Lage vor Ort gemacht. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Yaounde erklärt er, was hinter dem Konflikt steckt.

Autor/in:
Joachim Heinz
Brunnenwasser ist häufig kontaminiert / © Bettina Ruehl (epd)
Brunnenwasser ist häufig kontaminiert / © Bettina Ruehl ( epd )

KNA: Herr Wiegandt, Kamerun hat nicht unbedingt das Image eines Krisenstaates. Aber aktuell nehmen dort die Spannungen zwischen der englischsprachigen Minderheit und der französischsprachigen Zentralregierung zu. Warum?

Wiegandt: Der Ursprung des Problems liegt in der Kolonialzeit. Von 1884 bis 1919 war Kamerun deutsche Kolonie. Infolge des verlorenen Ersten Weltkriegs wurde mit dem Vertrag von Versailles ein großer Teil des Gebietes den Franzosen zugeschlagen, ein kleinerer Teil den Briten. 1961 votierten die Einwohner zweier englischsprachiger Regionen für die Zugehörigkeit zu dem ein Jahr zuvor von Frankreich unabhängig gewordenen Kamerun. Sie erhielten dabei weitreichende Zugeständnisse für den Erhalt des Englischen als Verkehrssprache und Teile des britischen Rechtssystems, das sogenannte common law.

KNA: Das alles liegt aber nun schon ein paar Jahrzehnte zurück.

Wiegandt: Aber in der Zwischenzeit hat sich viel Frust angestaut. 1972 wurde das föderale System durch eine Verfassungsänderung massiv beschnitten; die Zentralregierung erhielt dafür mehr Rechte. In den 90er Jahren stellten die Politiker in der Hauptstadt Yaounde dann wieder eine Dezentralisierung in Aussicht. Doch es blieb bei leeren Versprechungen. Die Menschen in den beiden betroffenen Regionen Südwest und Nordwest sind verbittert und frustriert. Seit Jahrzehnten werden sie diskriminiert und gegängelt und fühlen sich inzwischen als Kameruner Zweiter Klasse.

KNA: Im Herbst 2016 streikten die Anwälte in den beiden Regionen.

Wiegandt: Weil viele Gesetzestexte inzwischen nur noch auf Französisch publiziert werden. Ein weiterer Vorwurf ist, dass die Zentralregierung immer mehr französischsprachige Richter in die englischsprachigen Landesteile entsende - die weder in der englischen Sprache noch im britischen Rechtssystem sattelfest seien.

KNA: Auf die Anwälte folgten die Lehrer.

Wiegandt: Auch sie beklagen eine zunehmende Dominanz des Französischen an den Schulen. Schulen und Universitäten sind teils schon seit Wochen geschlossen.

KNA: Sie haben sich die Lage vor Ort angeschaut. Wie ist die Stimmung?

Wiegandt: Sehr gedrückt. Jeden Montag bleiben in den großen Städten die Läden aus Protest geschlossen, Busse und Taxen fahren nicht. Es herrscht eine gespenstische Atmosphäre. Zudem sind die Sicherheitskräfte extrem angespannt. Es gab zahlreiche willkürliche Verhaftungen; im Dezember soll es sogar einige Tote gegeben haben.

KNA: Gibt es Ansätze zum Dialog?

Wiegandt: Die Gewerkschaften, aber auch die katholischen Bischöfe haben sich an die Regierung gewandt. Aber von dort kommt nichts. Im Gegenteil: Die Regierung spielt das Problem herunter.

KNA: Das klingt, als stünde eine weitere Eskalation bevor.

Wiegandt: Viele Probleme im anglophonen Kamerun sind auch in anderen Teilen des Landes akut: stagnierende Wirtschaft, Perspektivlosigkeit für Jugendliche, ein mangelnder Wille zu politischen Reformen. Präsident Paul Biya ist jetzt seit rund 34 Jahren an der Macht und regiert sein Land hauptsächlich aus dem Ausland, unter anderem aus Genf und Baden-Baden, wo er sich gern aufhält. Hinzu kommt, dass im Norden Kameruns der Krieg gegen die islamistische Gruppe Boko Haram viele Kräfte bindet.

KNA: Düstere Perspektiven.

Wiegandt: Kamerun ist von schwierigen Nachbarn umgeben: Tschad, Zentralafrikanische Republik, Nigeria. Bislang galt das Land mit seinen mehr als 200 Ethnien und seiner religiösen Vielfalt als Stabilitätsanker in zentralen Afrika. Das könnte sich jetzt ändern.


Quelle:
KNA