Pater Anselm Grün zur Bedeutung von Weihnachten

"Gott und Kind - das ist keine Idylle"

Unsere Gesellschaft sorgt sich um ihre Kinder. Es werden zu wenige Kinder geboren. Und die geborenen werden vernachlässigt.
Ober aber sie werden schon von Geburt an eingezwängt in einen Ausbildungsplan, damit sie der Wirtschaft möglichst schnell zur Verfügung stehen. Gegen alle Vernachlässigung und Verzweckung des Kindes feiern wir Weihnachten. Gott ist in Jesus Christus nicht nur Mensch geworden, um uns einen Weg zu wahrer Menschwerdung zu zeigen. Er ist als Kind in einem Stall auf der Wanderschaft geboren worden.

 (DR)

Gott und Kind - das ist keine Idylle. Das göttliche Kind wird in eine Krippe gelegt. Und schon kurz nach der Geburt trachtet ihm Herodes nach dem Leben. Herodes ahnt, dass dieses hilflose Kind in der Krippe von Bethlehem seine Herrschaft ins Wanken bringt.
Es untergräbt seine Macht. So muss das Kind nach Ägypten fliehen, in die Fremde. Ein Engel begleitet die Familie und schützt das Kind vor den Schergen. Und ein Engel führt es wieder in die Heimat zurück. Unsere Kinder brauchen heute auch solche Engel, die es schützen vor den Plänen der Mächtigen, vor dem Zugriff der Wirtschaft. Wir selbst sind ausgesetzte Kinder. Wir sind hier letztlich nicht zuhause. Wir sind nur dort daheim, wo das Geheimnis wohnt, wo nicht alles verplant und dem Kalkül unterzogen wird.

Gott wird in einem Kind angeschaut. Das Antlitz des Kindes spiegelt etwas von der Herrlichkeit Gottes wider. Einem Kind kann man sich nur mit zärtlichen Händen nahen. Auch Gott lässt sich nicht anpacken und in Besitz nehmen. Er entzieht sich jedem menschlichen Zugriff. Es braucht die Augen eines Kindes, um zu verstehen, was das Reich Gottes ist. Das wird dieses Kind in der Krippe sagen, wenn es erwachsen ist. Da nimmt Jesus ein Kind in seine Arme und weist die Jünger zurecht, die die Kinder als lästig empfinden: "Menschen wie ihnen gehört das Reich Gottes."
(Mk 10,14). Kinder können noch staunen. Sie lassen sich nicht beherrschen vom kontrollierenden und planenden Verstand der Mächtigen. Sie sind offen für etwas Größeres. Sie sind offen, dass Gott in ihnen herrscht. Kinder verweisen uns nicht nur auf Gott, sondern auch auf das Geheimnis unserer eigenen Menschwerdung. Wir sollen wie die Kinder werden, um in das Reich Gottes zu kommen. Wir müssen Abstand gewinnen von unsere Ego, das alles im Griff haben möchte, um Gott in uns Raum zu geben. Und nur wenn Gott in uns herrscht, sind wir wahrhaft frei. Nicht mehr die Erwartungen der Menschen oder ihre Ansprüche auf uns bestimmen uns, sondern Gott. Wenn Gott zur inneren Stimme in uns wird, wird unser Leben stimmig. Dann stimmen wir überein mit unserem innersten Wesen.

Im Blick auf das Kind in der Krippe können wir die richtige Einstellung zu unseren Kindern gewinnen. Und wir entdecken an ihm das innere Kind in uns. Weil wir das Kind in uns verdrängt und unterdrückt haben, gehen wir mit den Kindern so unmenschlich um.
Weihnachten erinnert uns nicht an ferne Kindheitsromantik. Es erinnert uns, dass wir heute als Erwachsene ein Kind in uns tragen, das oft genug nach Zuwendung schreit. Wenn wir die Schreie des inneren Kindes nicht beachten, verschließen wir uns auch dem Hilfeschrei kleiner und erwachsener Kinder. Doch in uns ist nicht nur ein verletztes Kind, sondern auch ein göttliches Kind. In der Mythologie ist dieses göttliche Kind eine Quelle der Kreativität und Fantasie in uns. Weihnachten will uns in Berührung bringen mit dem göttlichen Kind in uns, damit wir diese Welt mit neuen Augen anschauen und mit neuen Ideen gestalten.
Gott selbst - so sagen uns die christlichen Mystiker - will in uns geboren werden, um unser Leben von innen heraus zu erneuern.
Gott feiert mit uns an Weihnachten einen neuen Anfang. Darin hat Papst Leo im vierten Jahrhundert das Wesen der Weihnachtsbotschaft gesehen.

Wir sind nicht festgelegt durch die Vergangenheit. Wir sind nicht eingezwängt in die Zukunftspläne der Wirtschaft. Gott will neu mit uns beginnen, mit neuen Augen, die über diese Welt hinaus sehen, mit neuen Händen, die diese Welt mit Fantasie und Hoffnung gestalten, und mit neuen Füßen, die Wege zum Frieden und in die Freiheit, in die Liebe und in die Lebendigkeit hinein wagen. Gott wird als Kind geboren, damit wir das einmalige und einzigartige Bild, das Gott sich von jedem von uns gemacht hat, in uns entdecken. Wenn jeder dieses ursprüngliche und unverfälschte Bild Gottes in sich lebt, dann wird diese Welt heller, wärmer, liebevoller und menschlicher.