"Gefühlt ist es immer mein eigenes Kind"

Ersatzeltern auf Zeit sein

Ein fremdes zu den eigenen Kindern vorübergehend noch dazu nehmen: eine Selbstverständlichkeit für Bereitschaftspflegeeltern. Doch das ist nicht immer Idylle pur. Vor allem der Abschied, der unausweichlich kommt, ist oft unsagbar traurig.

Zwischendurch ist immer auch Kuscheln angesagt / © Beatrice Tomasetti (DR)
Zwischendurch ist immer auch Kuscheln angesagt / © Beatrice Tomasetti ( DR )

"Mama", ruft Ben und klappert lautstark mit seinem bunten Kindergeschirr aus Plastik auf der Holzplatte. Ungeduldig versucht er, die kleinen Teller im Puppenformat auf dem großen Küchentisch so anzuordnen, wie er es sich bei Elke Hauser* abgeguckt hat. Und auch die kleinkindgerechten Gäbelchen und Löffel will der Zweieinhalbjährige sorgfältig in eine Reihe bringen. Denn oft genug hat er bislang schon beobachtet, was zu einem Essen alles auf den Tisch gehört.

Auch einen Mini-Toaster mit einer einbauten Feder, die die braun angemalte Brotscheibe immer wieder aus dem Spielgerät springen lässt, stellt Ben* dazu. Und bei jedem Handgriff entfährt ihm wieder ein deutliches "Mama". "Gut gemacht", lobt die 39-Jährige ihren Pflegesohn, nimmt den Kleinen auf den Schoß und streicht ihm liebevoll über das Haar. Eine Runde Kuscheln ist angesagt, bevor sich das Kind im nächsten Moment aus der zärtlichen Umarmung wieder löst und losrennt. Ben sei wild und bewegungsfreudig, erklärt Elke Hauser lachend dazu. "Zwischendurch aber sucht er immer wieder ein Stück Sicherheit und weiß mittlerweile auch, wo er hingehört."

Anzeichen von Misshandlung und Vernachlässigung

Das war nicht immer so, dass Ben seine Bedürfnisse klar ausdrücken konnte oder körperliche Nähe suchte. Als zu Beginn des Jahres bei der Bereitschaftspflegefamilie Hauser ein Anruf von der Fachstelle "Familiäre Hilfen" einging und gefragt wurde, ob sie  umgehend ein anderthalbjähriges Kind aufnehmen könne, zeigte Ben bei seiner Ankunft zunächst eindeutige Verhaltensauffälligkeiten, die unschwer auf eine Traumatisierung in der Herkunftsfamilie schließen ließen. Alle Anzeichen deuteten auf Misshandlung und Vernachlässigung hin; der Junge hatte blaue Flecken, war verängstigt und zitterte am ganzen Leib. Mit den Ärmchen machte er immer wieder kreisförmige Abwehrbewegungen, und wenn man ihn berühren wollte, wich er erschrocken zurück.

"Mama" und "Papa" sei das Einzige gewesen, was er sagen konnte, erinnert sich Elke Hauser. Mit diesen beiden Worten habe er von da an alles bezeichnet, was er benennen wollte. Über einen größeren verbalen Spielraum hat er nicht verfügt. Es sei ein langer Prozess gewesen, bis Ben das nötige Vertrauen zu seiner neuen Umgebung aufgebaut habe. Aber nun fühle er sich sichtlich wohl inmitten von Menschen, die ihm viel Aufmerksamkeit und Zuneigung schenkten. Die gelernte Arzthelferin, die ursprünglich gerne Erzieherin geworden wäre und sich in dieser Aufgabe, die als Berufstätigkeit gilt, nun "angekommen" fühlt, weiß jede Gemütsbewegung von Ben zu interpretieren. Und das mit der Sprache, ist sie zuversichtlich, würde noch schon.

Bereitschaftspflege betrifft die ganze Familie

Denn seit fast einem Jahr lebt der kleine Junge nun bereits bei den Hausers. Das ist für eine Bereitschaftsbetreuung, die eigentlich nur als Zwischenlösung und akute Krisenintervention des Jugendamtes für wenige Monaten gedacht ist, ungewöhnlich lang. Aber das schafft auch die Gelegenheit, dass Ben lernen kann, Beziehungen aufzubauen und die unguten Erfahrungen während seines ersten Lebensjahres allmählich zu vergessen. Schließlich gehören zu seiner Ersatzfamilie auch noch Vater Rainer* und die drei eigenen Kinder im Alter zwischen 11 und 16 Jahren, so dass bei den Hausers immer was los ist und Ben oft als Jüngster – auch weil alle wegen seiner Vorgeschichte sensibel mit ihm umgehen und viel Rücksicht nehmen – im Mittelpunkt steht.

"Bereitschaftspflege ist ein Job, der die ganze Familie betrifft", sagt Elke Hauser. "Wir haben uns damals, als ich damit angefangen habe, schon gefragt, ob wir das gemeinsam hinbekommen. Denn das funktioniert nur, wenn alle an einem Strang ziehen." Und die Theorie sei nun mal etwas anderes als die Praxis im Alltag. "Außerdem ist das keine Arbeit wie jede andere: Bereitschaftseltern sind 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche im Einsatz. Das kann man nur mit Herz machen." Aber mittlerweile sei die ganze Familie da hineingewachsen. "Und nach drei Tagen spätestens ist jedes Pflegekind gefühlt immer mein eigenes."

Pflegeeltern erweisen sich oft als Glücksfall

Es sind immer schwierige Verhältnisse, aus denen die kleinen Mädchen und Jungen in die Bereitschaftsfamilien kommen. Hier erleben sie oft zum ersten Mal feste Bezugspersonen und Stabilität. Ein Heim kann das nicht bieten — vor allem nicht, wenn die Kinder noch ganz klein sind. Bereitschaftsfamilie zu sein – das ist so etwas wie eine Anlaufstation für Erste Hilfe oder auch eine Art "Notaufnahme". Für die Kinder, die vom Jugendamt aus ihren Familien genommen werden, weil die Mutter überfordert ist oder der Vater gewalttätig, wo es zusätzlich eine Suchtproblematik gibt oder die Eltern ihre Kinder schlicht nicht wollen wie in Bens Fall, gibt es solche Eltern auf Zeit, die sich für viele in Obhut genommene Kinder als Glücksfall erweisen.

Mitzuerleben, wie sich Kindern mit verlässlicher Fürsorge veränderten und geradezu aufblühten – innerlich wie äußerlich – das sei für sie die eigentliche Motivation, erklärt Elke Hauser. Erst recht, wenn man selbst gesunde Kinder habe. Dann schätze man das eigene Glück umso mehr. Kindern, die nicht in eine unbelastete Familie hineingeboren würden und auf der Sonnenseite des Lebens stünden, vorübergehend eine unbeschwerte Zeit in der Geborgenheit einer intakten Familie, eben ein Stück normale Kindheit zu schenken, gebe ihr einfach ein gutes Gefühl.

Bei Pflegekindern wie Ben bekomme man mit, wie schnell etwas im Leben auf die Kippe geraten könne. Dass Eltern ihre Kinder nicht selbstverständlich liebten, ihnen seelische oder körperliche Gewalt antäten, das sei eigentlich zwar unvorstellbar. Trotzdem müsse man sich damit im Vorfeld auseinandersetzen, um auch für den regelmäßigen Besuchskontakt mit den leiblichen Eltern des Kindes, den das Jugendamt bewusst aufrecht erhält, gewappnet zu sein.

Jedem Kind in der begrenzten Zeit viel Gutes bieten

Bis heute werden Ben und auch sein älterer leiblicher Bruder Tom*, der absichtlich in einer anderen Familie untergebracht wurde, von den leiblichen Eltern nicht angenommen. Sie sind nicht wirklich gewollt. Das heißt, beide Kinder werden nicht nach Hause zurückkehren, sondern schon bald in eine Dauerpflegefamilie vermittelt – allerdings getrennt voneinander, damit jedes Kind die Chance bekommt, sich frei zu entwickeln und sich nicht zwangsläufig immer an die mutmaßliche Misshandlung, der die Kinder ausgesetzt waren, erinnern zu müssen.

Beide hängen sehr aneinander und bedeuten einander viel. "Aber Ben hatte lange Zeit gar keinen Zugang zu seinen eigenen Gefühlen; er hat seinem großen Bruder immer alles abgeschaut und nachgemacht. Und der hat für den jüngeren dann alles geregelt", so die Beobachtung von Elke Hauser. Solche Rollen aber müssten für eine dauerhaft gesunde Entfaltung einer individuellen Persönlichkeit aufgebrochen werden. Trotzdem würden die Behörden dafür sorgen, dass ein regelmäßiger Kontakt zwischen den Brüdern bestehen bleibe.

"Klar ist, dass beide Kinder unter anderem nicht regelmäßig zu essen bekamen – und wenn, dann Fast food", weiß die Pflegemutter. Bis heute reagiere Ben unkontrolliert und panisch, wenn es ans Essen gehe, und könne die Nahrungsaufnahme kaum steuern. "Als er zu uns kam, war ihm die Verwahrlosung deutlich anzusehen", erinnert sie sich. Was im Einzelnen mit ihm passiert ist, will sie so genau gar nicht wissen. "Man erfährt ohnehin nie Details. Das ist aber auch gut so. Denn manches darf man auch nicht zu nah an sich rankommen lassen." 

Kinder leiden zu sehen sei für sie unerträglich. "Man muss im Jetzt leben und sich auf die momentane Chance konzentrieren, jedem Kind in der begrenzten Zeit so viel Gutes wie möglich zu bieten. Wenn man sich zu sehr mit der Vergangenheit beschäftigt, nimmt das einem selbst viel Kraft", betont sie. In den letzten elf Monaten hat sie bei Ben deutliche Fortschritte beobachtet und freut sich, dass es ihm jetzt gut geht – vor allem auch, wenn er mit anderen Kindern zusammen sein kann. Deshalb geht Ben auch an drei Vormittagen in eine Spielgruppe. Mittags hole sie dann ein ausgeglichenes und fröhliches Kind wieder ab, berichtet Elke Hauser.

In sieben Jahren 13 Pflegekinder aufgenommen

Sie ist so etwas wie ein Profi als Bereitschaftsmutter. Denn in sieben Jahre hat Elke Hauser 13 Pflegekinder aufgenommen. An einer Fotowand im Wohnzimmer hängen Fotos von Jeremy, Valentina, Jeffrey, Ramiza und den vielen anderen, deren Spuren sich meistens im Laufe der Jahre verloren haben, auch wenn es sich die Pflegemutter anders gewünscht hätte und sie jedes Kind mit seiner oft erschütternden Geschichte noch sehr präsent hat. Allein zu vier von ihnen hat sie noch Kontakt, weil sie in Dauerpflegefamilien vermittelt wurden und diese die noch bestehende Bindung zu den Bereitschaftseltern, die oft in den ersten Lebenstagen und -wochen für ganz viel Nähe und Geborgenheit gesorgt haben, aktiv unterstützen.

Bei Bryan, den die eigenen Eltern nicht wiederhaben wollten und der nach einem Jahr einen Platz in einer Dauerpflegefamilie gefunden hat, wird sie demnächst Patentante. Der kleine Blondschopf, der auf dem Foto noch ein Baby ist, wird im Februar drei Jahre alt, und dann soll er getauft werden. Emilia kam als Säugling direkt aus dem Krankenhaus zu den Hausers und bliebt fast zwei Jahre. "Nach so langer Zeit ist eine Trennung für alle hart. Da wird auch viel geweint", gesteht Elke Hauser. "Das ist immer ein Trauerprozess, bei dem wir uns alle erst wieder neu sortieren müssen und auch eine Pause benötigen, bevor wir das nächste Kind aufnehmen. Es tut immer weh, ein Kind, das uns ans Herz gewachsen ist, wieder abzugeben." Das sei wie Liebeskummer, der erst heilen müsse. Aber das gehöre zu dieser Aufgabe eben auch dazu.

"Keines der Kinder ist vergessen"

"Im Idealfall weiß man, wohin das Kind im Anschluss kommt, und hofft, dass es dort dann ebenso gut aufgehoben ist." Mit dieser Zuversicht tröstet sich die Pflegemutter. Trotzdem mache man sich immer Gedanken – wie bei den eigenen Kindern. Dennoch hat sie auch gelernt loszulassen. Jeder Abschied bringe sie emotional an ihre Grenzen. "Aber man kann viel mehr, als man manchmal von sich selbst glaubt." Wo Not sei, reagiere sie eben instinktiv. "Das Denken kommt erst später."

Nicht nur in ihrem Herzen lebt die Erinnerung an diese 13 Kinder weiter, die in den letzten Jahren einen kurzen Zwischenstopp bei den Hausers eingelegt haben. Um das Tatoo an ihrem rechten Unterarm mit den drei roten Herzen, die an einem Anker festgebunden sind und für ihre eigenen drei Kinder stehen, hat sie sich auch eine Pusteblume unter die Haut spritzen lassen. Die 13 dunklen feinen Striche haben für sie große Symbolkraft. Sie zeigen wegfliegende Samen. Elke Hauser betont: "Keines dieser Kinder ist vergessen."

*Alle Namen wurden von der Redaktion geändert.

Beatrice Tomasetti (DR)


Ben (Name geändert) genießt die Aufmerksamkeit und Zuneigung seiner Pflegemutter / © Beatrice Tomasetti (DR)
Ben (Name geändert) genießt die Aufmerksamkeit und Zuneigung seiner Pflegemutter / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Auf ihren Unterarm hat die Pflegemutter Symbole für ihre eigenen und die angenommenen Kinder tätowieren lassen / © Beatrice Tomasetti (DR)
Auf ihren Unterarm hat die Pflegemutter Symbole für ihre eigenen und die angenommenen Kinder tätowieren lassen / © Beatrice Tomasetti ( DR )
Quelle:
DR
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