Weibliche Wohnungslose

Ohne Obdach, ohne Schutz

Auf den Straßen oder Plätzen fallen sie kaum auf: Obdachlose Frauen. Aus Scham und Angst vor Übergriffen schlafen viele Betroffenen nicht unter der Brücke, sondern bei Bekannten. Ihre Zahl steigt, trotzdem gibt es zu wenig Hilfsangebote.

Autor/in:
Alexandra Paul
Frauen in einer Obdachlosenunterkunft (shutterstock)

Wenn sich Ilse Kramer eines immer geleistet hat, dann sind es Zigaretten. Die 63-jährige steht in einem Hauseingang im Kölner Norden und pustet Rauch in den kalten Novemberabend. "Ich weiß, dass sechs Euro Mist sind für eine Packung", sagt sie mit trotzigem Lächeln: "Aber das ist mir egal. Ich leiste mir ja sonst keinen Luxus." Es sind nicht nur Bequemlichkeiten, auf die Ilse Kramer in ihrem Leben schon verzichten musste. Die kleine Frau mit dem geduckten Gang war Mitte 50, als sie den Boden unter den Füßen verlor: Erst wurde ihr der Job gekündigt, dann die Wohnung. "Ich war dumm und naiv damals", sagt sie heute. Aus Scham und falschem Stolz suchte sie sich keine Hilfe, sondern fand erst einmal Unterschlupf bei Freunden und Bekannten.

Couchsurfing statt draußen schlafen

Das sogenannte "Couchsurfing" ist gängige Praxis unter wohnungslosen Frauen. Viele wollen sich zunächst nicht eingestehen, dass sie ohne Obdach sind, erzählt Sozialarbeiterin Katja Caliebe vom Sozialdienst Katholischer Frauen in Köln. Dadurch sind die Betroffenen im öffentlichen Raum kaum sichtbar und deshalb wird unter Fachleuten in diesem Zusammenhang auch von "verdeckter Obdachlosigkeit" gesprochen. Aber mit dem Couchsurfing entstehen Abhängigkeiten, die Frauen bis in die Prostitution treiben. Davon kann auch Ilse Kramer berichten: "Um in einem Bett schlafen zu können, gibt es Frauen, die regelmäßig in die Kneipe gehen, um dort von einem Mann abgeschleppt zu werden. Das kann gefährlich werden."

Soweit musste die gebürtige Kölnerin selbst nicht gehen, aber auch sie ging viele Kompromisse ein für einen Platz zum Schlafen. Selten hatte sie bei den Bekannten ein eigenes Zimmer. Meist schlief Ilse Kramer auf dem Sofa und erinnert sich, wie sehr sie der Willkür ihrer Gastgeber ausgesetzt war: "Du darfst halt nicht anecken, musst immer darauf hoffen, dass man dich weiter in die Wohnung lässt."

Viele Betroffene erleben häusliche Gewalt

Zehn Jahre lang hoffte auch Iris, die ihren vollständigen Namen nicht nennen möchte, auf ein friedliches Leben in einer gemütlichen Wohnung in Neustadt in Rheinland-Pfalz. Aber ihr Partner schlug und quälte die hochgewachsene Frau im Streit immer wieder. "Ich bin in den Wald geflüchtet oder in einen Schuppen und habe dort geschlafen", erzählt die heute 53-Jährige. Auch das Auto nutzte Iris als Versteck. Auf dem Beifahrersitz lag immer eine Tasche parat für den Notfall vollgepackt mit Kleidung. "Damit habe ich mich in einsame Straßen gestellt und mich gut auf der Rückbank mit Decken abgedeckt, damit mich keiner sieht", erinnert sich Iris.

Häusliche Gewalt ist ein häufiger Grund für Wohnungslosigkeit bei Frauen. Zudem sei vielen nicht bekannt, dass sie faktisch wohnungslos seien,  weiß Sozialarbeiterin Katja Caliebe aus Erfahrung. Wenn sie zum Partner gezogen, aber nicht im Mietvertrag eingetragen seien und dann die Trennung komme, stünden die Betroffenen ohne Wohnung da.

Anlaufstelle nur für Frauen

Immer wieder kehrte Iris in die Wohnung zu ihrem gewalttätigen Partner zurück. Als er sie vor sieben Jahren in eine lebensbedrohliche Situation brachte, schaffte die hochgewachsene Frau den Absprung. Sie ging nach Berlin und fand dort Hilfe beim Frauentreffpunkt Sophie von der Koepjohannschen Stiftung, eine der ältesten Stiftungen in Berlin. Die Einrichtung liegt in einem Kellerraum in Berlin-Mitte.

Ein gutes Dutzend Frauen hat sich an einem nass-kalten Vormittag Ende November hier eingefunden. Sie sitzen am langen Tisch vor einer Küchenzeile – einige essen und unterhalten sich, andere starren ins Leere, schlafen oder sind in ein Buch vertieft. Iris eröffnet das Mittagsbüffet: Es gibt gefüllte Zucchini mit Brot und Reis. Sie ist stolz darauf, inzwischen eine eigene Wohnung in Berlin gefunden zu haben. Die Sozialarbeiterin in der "Sophie" hat sie dabei unterstützt, ist mit zu den Ämtern und zum Vermieter gegangen. Und sie hat Iris auch einen Job angeboten - als Köchin und erste Ansprechpartnerin für Besucherinnen.

Obdachlose Frauen meist nicht erkennbar

Die können sich in der "Sophie" beraten lassen, wenn sie ungewollt schwanger sind, einen Ausbildungsplatz suchen oder eine Wohnung. Außerdem bietet der Treff etwas Warmes zu essen, eine Dusche sowie Waschmaschine und Trockner. Viele nutzen die Zeit hier um sich zu pflegen, berichtet Mirian Ramos aus Erfahrung. "Die Frauen hier schämen sich für ihre Situation und achten deshalb besonders auf ihr Äußeres", erzählt sie weiter. Auch das ein typisches Merkmal weiblicher Wohnungslosigkeit, weiß die erfahrene Sozialarbeiterin.

Sie legt Wert darauf, dass der Frauentreffpunkt besondere Öffnungszeiten hat und damit eine Versorgungslücke in Berlin schließt. "Denn die meisten Einrichtungen bieten nur Hilfe an den Wochentagen. Aber wohin sollen Obdachlose am Samstag oder Sonntag? Das hat mich schon lange geärgert", sagt Mirian Ramos. Deshalb ist die "Sophie" auch am Wochenende und an den Feiertagen geöffnet. Bis zu 800 Frauen nutzen das Angebot jedes Jahr, zu dem Männer ausdrücklich keinen Zutritt haben. Auch das gehört zum Konzept, erläutert Ramos: "Die meisten Frauen haben Gewalt erlebt und brauchen besondere Schutzräume, in denen sie sich sicher fühlen."

Kommunen in der Pflicht

In Deutschland sind die Bedürfnisse von Frauen auf der Straße erst Mitte der 1990er Jahre in den Fokus getreten. Vorher richteten sich Hilfs-Angebote meist an Männer, die bis heute den Großteil der Obdachlosen stellen. Nach jüngsten Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosehilfe gibt es im Land derzeit rund 680.000 Obdachlose – ein Drittel davon ist weiblich. Gerade in den kleineren Städten und auf dem Land finden sie jedoch nur selten Anlaufstellen und spezielle Hilfe, bemängeln Sozialverbände. "Hier sind dringend die Kommunen gefragt", findet Sozialarbeiterin Katja Caliebe von Sozialdienst katholischer Frauen: "Sie müssen ihre Angebote erweitern und den Schutz von Frauen in den Blick nehmen."

Dieses Anliegen kann auch Ilse Kramer unterschreiben. Die gebürtige Kölnerin, die selbst 14 Monaten lang ihre Wohnungslosigkeit durch Couchsurfing überbrückte, ist jetzt politisch aktiv. Sie hat die "Selbstvertretung obdachloser Frauen" ins Leben gerufen. "Ziel ist, dass wir Betroffenen uns deutschlandweit vernetzen und versuchen der Politik zu zeigen, was unsere Nöte sind", erzählt die Seniorin nicht ohne Stolz. Ilse Kramer hat es aus eigener Kraft und mit ein bisschen Glück geschafft wieder auf eigenen Füßen zu stehen. Außerdem hat sie sich den größten Wunsch erfüllt: eine eigene Wohnung. "Das hat was mit Würde zu tun", sagt sie mit Nachdruck: "Jetzt kann ich sagen: Ich mach die Tür einfach hinter mir zu. Das ist jetzt meins."


Obdachlose Frau mit einem Plastikteller Suppe / © Rudolf Wichert (KNA)
Obdachlose Frau mit einem Plastikteller Suppe / © Rudolf Wichert ( KNA )
Quelle:
DR
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