Sozialwaisen und Religion sind Teil von 70 Jahren SOS-Kinderdörfer

"Kinder gehören nicht in Heime"

Viele Kinder weltweit leben als Waise und sind auf Hilfe angewiesen. Für sie ist auch "SOS-Kinderdörfer" aktiv, eine Organisation, die in 135 Ländern tätig ist. An diesem Donnerstag vor 70 Jahren wurde der Verein von Hermann Gmeiner gegründet.

SOS-Kinderdörfer / © Maurizio Gambarini (dpa)
SOS-Kinderdörfer / © Maurizio Gambarini ( dpa )

DOMRADIO.DE: An diesem Donnerstag (25. April 2019) feiern die SOS-Kinderdörfer großes Jubiläum. Seit 70 Jahren gibt es sie. Sind sie nach wie vor notwendig? Gibt es noch immer so viel Leid für Kinder und Kinder, die auf die Hilfe der SOS-Kinderdörfer angewiesen sind?

Louay Yassin (Leiter der Medienkommunikation und Pressesprecher von "SOS-Kinderdörfer weltweit"): Ja, unbedingt! Eigentlich hatte Hermann Gmeiner damals das Kinderdorf als Übergangslösung erfunden und hatte gehofft, dass irgendwann die Kinder so etwas nicht mehr brauchen. Aber inzwischen ist es so, dass leider mehr und mehr Kinder diese Hilfe brauchen. Wir haben immer mehr Waisenkinder und das wird häufig nicht bedacht. Heute sind in den Kinderdörfern viel häufiger Sozialwaisen als richtige Waisen, also Kinder, die zwar leibliche Eltern haben, aber aus den verschiedensten Gründen nicht mehr bei diesen wohnen können.

DOMRADIO.DE: Das heißt, die Probleme haben sich ein bisschen verlagert. Damals, 1949, das war die Nachkriegszeit, das waren tatsächlich oft verwaiste, verlassene Kinder. Und Sie sagen, jetzt sind es Sozialwaisen. Wie genau versuchen Sie denen zu helfen?

Yassin: Wie bei den normalen Waisen geht es genau darum, ihnen eine Ersatzfamilie zu geben. Wir wollen eben nicht, und das war das Wichtigste für Hermann Gmeiner, eine Heim-Atmosphäre bieten. Hermann Gmeiner hat gesagt, Kinder gehören nicht in Heime, wo es Schlafsäle mit hundert oder auch nur fünfzig Betten geben sollte und wo Betreuungspersonen am Tag acht Stunden kommen und danach weg sind. Am Abend kommt vielleicht eine andere Betreuungsperson. Das soll Kindern auch heute, egal ob Waise oder Sozialwaise, nicht passieren. Kinder brauchen Eltern. Deswegen stützen wir auch grundsätzlich nicht nur Kinder, die in Kinderdörfer kommen, sondern Familien außerhalb der Kinderdörfer durch Beratung, durch Fortbildungen, durch Mikrokredite und so weiter und so fort. Und zwar dann, wenn die Familien so schlecht und arm dran sind, dass sie Gefahr laufen, dass sie zerbrechen.

DOMRADIO.DE: Kultur und Religion spielen dabei auch eine wichtige Rolle. Aus welcher Motivation heraus engagieren Sie sich in den Kinderdörfern?

Yassin: Kultur ist immer wichtig für das jeweilige Kind. Denn jedes Kind stammt aus einer Umgebung und das Kind soll möglichst seine Kultur auch im Kinderdorf wiederfinden. Deswegen haben wir in den indischen Kinderdörfern zum Beispiel keine deutschen Mütter oder sonst irgendwas, sondern nur indische Mütter. Oder wir haben in pakistanischen Kinderdörfern nur pakistanische Kinder und in albanischen Kinderdörfern natürlich nur albanische Mütter, die wiederum ihre Kultur und ihre Sprache an die Kinder weitergeben können. Und zur Religion: Wir sind bei uns überreligiös. Wir sagen nicht, wir sind nicht religiös, sondern wir sind überreligiös. Jedes Kind sollte auch die Religion im Kinderdorf wiederfinden, aus der es stammt. Und wenn das in Deutschland sehr häufig keine Religion ist, dann finden Sie im Kinderdorf auch keine Religion wieder. Und Katholiken finden katholische Mütter wieder und Evangelische finden evangelische Mütter und so weiter und so fort.

DOMRADIO.DE: Sie sind bei Ihrer Arbeit auf Spenden angewiesen. Wie groß ist denn die Bereitschaft in der Gesellschaft, auch nach 70 Jahren SOS-Kinderdörfer zu unterstützen?

Yassin: Die ist glücklicherweise nach wie vor immer noch sehr hoch. Gerade in Deutschland, da muss man auch wirklich mal einen großen Dank sagen. Vielen Dank, liebe Spender! Gerade in Deutschland und in NRW gibt es sehr, sehr viele Spender, die treu weiterhin die SOS-Kinderdörfer und unsere Arbeit für Kinder und Familien in aller Herren Länder unterstützen.

DOMRADIO.DE: 572 SOS-Kinderdörfer und über 2100 Projekte weltweit. Das sind stolze Zahlen, das ist das, was die SOS-Kinderdörfer in den vergangenen 70 Jahren auf die Beine gestellt haben. Was wünschen Sie sich jetzt für die kommenden Jahrzehnte?

Yassin: Ja, natürlich weiterhin die Zuneigung der Spender, damit wir neue Projekte aufbauen können. Denn die Probleme nehmen leider nicht ab, sowohl hier in Deutschland und in Europa, wo wirklich immer mehr Kinder zu Sozialwaisen werden, weil sie bei ihren Eltern nicht mehr leben können, als auch in anderen Ländern. Ich denke da nur an Syrien und so weiter, an solche Kriegsländer, wo Unterstützung für Kinder und arme Familien dringend notwendig ist. Dort braucht es letztendlich immer mehr Geld, um auch immer mehr Kinder erreichen zu können, denen wir eine gute Zukunft bieten wollen.

Das Interview führte Hilde Regeniter.


Quelle:
DR