Italienisch-deutsche Ordensfrau über Einwanderung nach Europa

"Eine Mauer unterbindet keine Flucht"

Es gibt immer Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen, weil sie in Not geraten. Migration sei also nicht aufzuhalten, so die Scalabrini-Schwester Milva Caro. Im Interview gibt sie auch Handlungsempfehlungen für eine neue deutsche Regierung. 

Autor/in:
Roland Juchem
"Eine Mauer unterbindet keine Flucht" / © Corinna Kern (KNA)
"Eine Mauer unterbindet keine Flucht" / © Corinna Kern ( KNA )

Milva Caro (49) wurde 1968 in Bietigheim/Württemberg als viertes Kind italienischer Gastarbeiter geboren, wuchs in Deutschland auf, studierte Theologie in Bonn. Seit Ende 2014 ist die Ordensschwester Europa-Oberin des Ordens der Missionarinnen vom heiligen Karl Borromäus, auch Scalabrini-Schwestern genannt.

Die Gemeinschaft mit derzeit knapp 600 Mitgliedern weltweit arbeitet auf vier Kontinenten fast ausschließlich mit Migranten und Flüchtlingen. Migration sei nicht aufzuhalten, sagt sie im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). 

KNA: Schwester Milva, ein Orden nur für Migranten - wieso das?

Milva Caro: Den Männerorden gründete der Bischof von Piacenza, Giovanni Battista Scalabrini, bereits 1887. Während andere damals sagten: "Das mit der Auswanderung nach Amerika, das geht vorbei", war Scalabrini anderer Meinung: "Das Phänomen bleibt, die Kirche muss bei diesen Menschen bleiben." Als bei der Überfahrt nach Brasilien eine italienische Mutter bei der Geburt ihres Kindes starb, wollte sich der Vater mit dem Baby über Bord stürzen. Damals konnte ein Scalabrini-Priester den jungen Vater davon abhalten, sich umzubringen. Er versprach dem Vater, sich um das Kind zu kümmern. In Brasilien musste er sich zudem um Waisen, Ausreißer, verkaufte Kinder kümmern - unbegleitete Minderjährige, wie wir heute sagen.

KNA: Probleme wie heute?

Caro: Absolut die gleichen. Es hat sich nichts verändert. Das war der Anlass, dass Scalabrini auch einen Frauenorden gründete.

KNA: Wie nehmen Sie die Debatte um Migranten und Flüchtlinge in Europa wahr?

Caro: Ein bisschen einseitig, mit zu vielen Parolen. Das Thema ist so komplex. Es geht immer um Menschen in Not, in Schwierigkeiten. Niemand verlässt seine Heimat ohne wichtigen Grund - bis auf einige Abenteurer vielleicht. Man übersieht all die Ungerechtigkeiten wie auch die Ambivalenzen der Problematik: die "Händler von Menschenfleisch", wie Scalabrini damals die Schlepper nannte, wie auch die Schlauen, die andere ausnutzen. Wir kennen all das, wir arbeiten mit Migranten.

KNA: Sind nicht Appelle, Migranten aufzunehmen, weil sie Kinder Gottes sind, ebenfalls Parolen?

Caro: Vielleicht, aber es sind Herausforderungen, Richtlinien Jesu, an denen wir nicht vorbeikommen. Wir dürfen die Debatte nicht aufheizen. Leider verschärfen viele Medien den Ton unnötig. In Italien heißt es oft: Wir können nicht mehr aufnehmen. Deutschland macht da viel mehr. Nicht ohne Grund wollen die Leute ja nach Deutschland und nicht in Italien bleiben. Dort sind die Perspektiven besser.

KNA: Wo liegen Unterschiede in dem, was beide Länder tun?

Caro: In Deutschland gibt es viele große Institutionen, die sehr viel für Migranten und Flüchtlinge tun: Caritas, Malteser, Rotes Kreuz, Diakonie und so weiter. Aber es wäre besser, wenn die sich jeweils nicht nur auf einen Bereich konzentrieren oder nebeneinander her arbeiten würden. Dieses Schubladendenken in Zuständigkeiten ist - wie ich finde - typisch deutsch. Man muss die unterschiedlichen Bedürfnisse der Menschen zusammen in den Blick nehmen.

KNA: Läuft das in Italien besser?

Caro: Auf jeden Fall. Der Mensch, der Migrant, den ich begleite, der trennt nicht zwischen seinen Bedürfnissen: Wohnung, Arbeit, Bildung, Behörden, aber auch Glaube und Religion.

KNA: Welche Erfahrungen machen Sie in Ihrer Arbeit?

Caro: Man merkt schnell, ob jemand lernen und sich integrieren will. Oder ob er nur Mitläufer ist. Ob jemand von seiner Familie geschickt, ja gezwungen wurde auszuwandern und nun die Familie ernähren soll. Trotz all dieser Schwierigkeiten glaubte Scalabrini, dass Gottes Vorsehung etwas Neues entstehen lässt, das man nicht aufhalten, aber steuern kann.

KNA: Nicht aufhalten?

Caro: Das ist ein Naturgesetz. Migration kann man nicht aufhalten. Eine Mauer - die Deutschen wissen das besser als alle anderen - unterbindet keine Flucht.

KNA: Macht sie aber schwieriger.

Caro: Ja, aber unterbindet sie nicht. Sie macht das nur schwieriger - mit mehr Toten, mehr Unterdrückung. Denn wer weg will, der tut das.

KNA: In Italien wird bald gewählt. Österreich hat eine neue Regierung, Deutschland bekommt bald eine neue. Welche drei Punkte würden Sie den Verantwortlichen mit auf den Weg geben?

Caro: Zunächst dafür zu sorgen, dass Einwanderung möglichst legal geschehen kann, und Illegalität soweit und so gut es geht unterbinden. Denn sonst werden Leute ausgenutzt, sind verletzlich. Zweitens sind Sprach- und Integrationskurse sehr wichtig; die helfen sehr viel. Schließlich braucht es Möglichkeiten sich zu begegnen und sich kennenzulernen. Dafür sind kulturelle Vermittler so wichtig. Und dann die Leute sobald wie möglich in die Selbstständigkeit entlassen.

KNA: Papst Franziskus ist bei dem Thema deutlich und fordernd. Überfordert er damit nicht selbst Christen?

Caro: Er fordert sie, aber er überfordert sie nicht. Er redet ins Gewissen. Doch das macht er bei allen Themen. Auch zu uns Ordensleuten kann er das sein. Aber irgendwann denkt man: Eigentlich hat er Recht.


Milva Caro / © Roland Juchem (KNA)
Milva Caro / © Roland Juchem ( KNA )
Quelle:
KNA