Was gegen geistlichen Missbrauch helfen könnte

Macht begrenzen und Fundamentalismen vermeiden

Im Zuge der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der Katholischen Kirche ist auch immer wieder vom "geistlichen Missbrauch" die Rede. Die Therapeutin und Theologin Hannah Schulz erklärt, welche Strukturen das Phänomen begünstigen.

Ein Kreuz auf einer Bibel / © Tetyana Afanasyeva (shutterstock)
Ein Kreuz auf einer Bibel / © Tetyana Afanasyeva ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Sie beschäftigen sich schon lange mit der Thematik. Fangen wir mal mit dem Begriff an. Was versteht man überhaupt unter geistlichem Missbrauch?

Dr. Hannah Schulz (systemische Therapeutin, Supervisorin, Exerzitienbegleiterin und Theologin):

Geistlicher Missbrauch wird im Moment fast ein bisschen zu einem Modebegriff. Dabei ist die Gefahr, dass man sehr viel unter so einem Begriff zusammenfasst. Man kann geistlichen Missbrauch in einem weiten Sinn definieren als jede Form von Missbrauch, egal ob emotionaler oder körperlich-sexueller Missbrauch, die in einem geistlichen oder im christlich katholischen Kontext passiert. Denn wenn ein Priester sexuell missbraucht, hat diese Erfahrung immer auch eine geistliche Dimension, weil er ja in der Kirche ein geistlicher Stellvertreter ist.

Man kann sagen, dass geistliches Leben zum Leben, zur Freiheit führen soll. Wenn es nun aber eingesetzt wird, um Menschen zu manipulieren, auszunutzen und auszubeuten, wird es missbräuchlich und dient letztlich nicht mehr dazu, dass die Menschen geistlich wachsen, sondern dass sie zur Befriedigung des eigenen Egos oder zum Erreichen von eigenen Zielen benutzt werden. Im geistlichen Kontext ist das besonders perfide, weil die Frohe Botschaft, das Evangelium, ja für die armen und bedürftigen Menschen da ist und sie wachsen lassen soll. Genau diese Botschaft wird dann aber instrumentalisiert, um über andere Macht zu haben.

DOMRADIO.DE: Viele geistliche Gemeinschaften oder Gruppierungen werden in ihrem Anfang von einer Person sehr geprägt. Welche Rolle beim geistlichen Missbrauch können diese "charismatischen" Gründungsfiguren spielen?

Schulz: Man kann jetzt nicht jeder Gründungspersönlichkeit vorwerfen, dass sie automatisch missbräuchlich ist. Wir wissen, dass es in der Entstehung von Institutionen und Gruppierungen eine Anfangsphase gibt, in der man genau so eine Führungspersönlichkeit braucht, die eine Vision hat und in der Lage ist, andere Menschen zu begeistern. Das ist also erstmal normal. Missbräuchlich kann es werden, wenn die Macht, die eine Person in sich vereint, nicht mehr kontrollierbar ist und nicht begrenzt werden kann. Wenn die Gründungspersönlichkeit diese Macht nutzt, um sich selbst zu dienen, um das eigene Ego wachsen lassen, dann wird es missbräuchlich.

Und wirklich gefährlich unter diesen charismatischen Persönlichkeiten sind diejenigen, die sagen, dass sie ihre Macht direkt von Gott empfangen haben, durch eine Offenbarung im Gebet oder durch den Heiligen Geist.

Andere verführen Menschen indem sie ihnen falsche und übertriebene Versprechungen machen. In Amerika zum Beispiel kennen wir die sogenannte "Prosperity Gospel". Da wird versprochen: Wer hier mitmacht, wird irgendwann selber reich. Gefährlich wird es auch dann, wenn eine Person zu viele Rollen und Aufgaben gleichzeitig in sich vereint oder wenn sie eine zu große Nähe zu den Menschen aufbaut und dann Ausschließlichkeit fordert. Also: Ihr dient jetzt nur noch uns und unserem Werk. Da besteht die große Gefahr, dass charismatische Führungspersönlichkeit andere missbrauchen.

DOMRADIO.DE: Kann man denn sagen, dass neue geistliche Bewegungen besonders anfällig für diese Form von Missbrauch sind?

Schulz: Wenn Sie das so als Frage stellen mit "Ja" oder "Nein", dann sage ich: Nein! Es liegt nicht daran, dass es neue geistliche Bewegungen sind. Wir kennen Missbrauch auch aus lange bestehenden Klöstern oder kirchlichen Strukturen, die schon in Jahrhunderten gewachsen sind. Ich würde sagen, geistliche Bewegungen sind anders gefährdet.

Einerseits, was ich eben gesagt habe; wenn sie wirklich neu sind, dann befinden sie sich automatisch in dieser Gründungs- und Pionierphase, die wie gesagt anfällig für Missbrauch ist. Und ein weiterer Gefahrenpunkt, den wir aus den Bewegungen kennen, die im katholischen Kontext in den letzten Jahrzehnten neu entstanden sind, ist, dass es häufig eine sehr große Nähe gibt, die sich in Richtung Ersatzfamilie entwickelt. Nähe kann positiv sein, aber da kann auch eine Gefährdung vorliegen, wenn zu viele archaische Sehnsüchte geweckt werden und es zu einer regressiven Ausschließlichkeit kommt.

Eine andere Gefahr ist, dass diese neueren Bewegungen häufig mit sehr hohen Idealen anfangen und damit auch junge Leute anziehen. Hohe Ideale sind ja erstmal nicht schlecht. Da ist die Rede von Vollkommenheit, von Heiligkeit. Dann geht es eben um ganze Hingabe, um blinden Gehorsam, um absolute Keuschheit, um ständiges Gebet. Da kann schnell ein elitäres Denken entstehen: Wir sind etwas Besseres, wir müssen die Kirche retten. Aber die Gefahr dabei ist, dass man die Bedürfnisse der Einzelnen für die Ideale – ich spreche dann auch von Idolen - opfert.

DOMRADIO.DE: Welche Umstände fördern noch geistlichen Missbrauch?

Schulz: Etwas, was es häufig gibt in den neueren Bewegungen, ist eine Vermischung von Leitungsfunktionen und therapeutischen Ansätzen, auch wenn die sich anders nennen, man etwa von innerer Heilung spricht. Oder auch die Kopplung von Beichte und Leitung. Dann vermischen sich die Rollen und das führt dazu, dass man nicht mehr in der Lage ist, Konflikte vernünftig zu lösen. Wenn es zum Beispiel um sachliche Themen geht, wird schnell ein persönliches Thema reingebracht. Zum Beispiel: "Du mit deiner Vaterproblematik, mit dir kann man ja nicht reden."

Und wir finden in diesen neueren Gruppierungen häufig auch Fundamentalismen. Die erkennt man immer an den "Nur". Also, "nur" durch das Gebet kann die Kirche erneuert werden. Wenn man das "nur" weglässt, ist da Wahrheit drin. Oder: geistliches Leben geht "nur" im Heiligen Geist oder gibt es "nur" durch eine Weihe an die Gottesmutter Maria.

Es ist schön, wenn Menschen ihre Spiritualität in einer großen Nähe zum Heiligen Geist oder zu Maria leben. Aber durch das "nur" wird es ausschließend. Eine rote Linie wird überschritten, wenn in Gemeinschaften oder durch einzelne Personen Redeverbote oder Kontaktverbote erteilt werden. Dann sind wir nicht mehr im Bereich der Gefährdung, da haben wir missbräuchliche Situationen.

DOMRADIO.DE: Dann stellt sich die Frage: Wie verhindert man, dass Strukturen und Gelegenheiten entstehen, die geistlichen Missbrauch begünstigen?

Schulz: Wichtig ist, dass Macht immer begrenzt ist und dass es Kontrollmechanismen und Kontrollorgane geben muss. Es muss deutlich sein, wie die Verantwortung über andere kontrolliert werden kann. Offenheit im Gespräch und andere Meinungen willkommen heißen, das ist ebenfalls wichtig - ebenso die Verteilung von Verantwortung. Es sollte nicht eine Person alles machen, also die Finanzen, die Kontakte nach außen, die Kontakte zur Kirche, womöglich auch noch geistliche Begleitung. Es sollte auch bei Gemeinschaften, die gerade neu entstanden sind, früh die Verantwortung geteilt werden.

Und letztlich würde ich sagen: Wichtig ist eine - nicht nur vorgespielte - echte Demut der Leitung. Damit sie allen Tendenzen, durch die sie von anderen überhöht und angehimmelt wird, entgegenwirkt. Ich würde auch sagen, dass man sich selbst als Leiter und als Gemeinschaft nicht so wichtig nimmt. Letztlich ist man nur ein Steinchen im Bauwerk der Kirche und wirkt nur in einer sehr kurzen Zeitspanne im Vergleich zur langen Geschichte der Kirche.

Das Interview führte Mathias Peter.


Dr. Hannah A. Schulz, Therapeutin und Theologin / © Ante Vuckovic (privat)
Dr. Hannah A. Schulz, Therapeutin und Theologin / © Ante Vuckovic ( privat )
Quelle:
DR