Neuer Bericht zur Odenwaldschule

"Ein Pädophilennest"

An der Odenwaldschule in Hessen sind im Zeitraum von 1965 bis 1998 insgesamt 115 Jungen und 17 Mädchen Opfer von sexuellem Missbrauch geworden. Dies geht aus dem vorläufigen Abschlussbericht hervor. Die für die Untersuchung Verantwortlichen rechnen mit dem Bekanntwerden weiterer Fälle.

 (DR)

Der Bericht stellten am Freitag die ehemalige Präsidentin des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main, Brigitte Tilmann, und die Wiesbadener Rechtsanwältin Claudia Burgsmüller vor. Darunter seien auch Vergewaltigungsopfer und Schüler, die Übergriffe an anderen beobachtet und darunter gelitten hätten.



Der Bericht führt als Täter 13 Lehrer und Mitarbeiter, eine Lehrerin und vier Mitschüler auf. "Wir haben nur ein Dunkelfeld erhellt, es wird weitere Fälle geben", sagte Burgsmüller. Immer noch meldeten sich Einzelne, die "schwerstgeschädigt" seien. An der Odenwaldschule in Ober-Hambach bei Heppenheim habe es ein "Pädophilennest" gegeben", so die Juristin.



Haupttäter sei der frühere Schulleiter Gerold Becker gewesen, der von 1969 bis 1985 an dem Internat lehrte und Anfang Juli dieses Jahres gestorben war. Ihm seien 86 männliche Opfer zuzurechnen, vorwiegend im Alter von elf bis 14 Jahren. Das jüngste Opfer sei sieben Jahre alt gewesen.



Die Staatsanwaltschaft Darmstadt hat nach eigenen Angaben sämtliche Ermittlungsverfahren gegen 15 ehemalige Lehrkräfte und einen Ex-Schüler eingestellt, weil die mutmaßlichen Taten verjährt sind.



Drogen- und Alkoholmissbrauch

Als weitere Täter nannten Tilmann und Burgsmüller die Lehrer Wolfgang Held (1966-1989), Jürgen Kahle (1968-1992) und Gerhard Trapp (1966/1968). Die beiden Juristinnen sprachen von einem Versagen der zwischen 1962 und 2007 amtierenden Schulleiter. Alle vier Personen hätten von den sexuellen Übergriffen gewusst. Tilmann und Burgsmüller forderten die Schule auf, die Opfer zu entschädigen. Auch müssten die Verjährungsfristen verlängert werden.



Nach den Worten von Schulleiterin Margarita Kaufmann haben fast alle Opfer von Drogen- und Alkoholmissbrauch berichtet, was die beiden Juristinnen auch auf den sexuellen Missbrauch zurückführten. "Die Aufarbeitung der Übergriffe hat erst begonnen", sagte Kaufmann. "Wir sind am Anfang der Aufklärung."



Die Odenwaldschule, die Anfang Juli ihr 100-jähriges Bestehen feierte, ist ein bundesweit bekanntes Reforminternat. Der Missbrauchsskandal war im vergangenen März öffentlich geworden, nachdem die Aufklärung der von der "Frankfurter Rundschau" bereits Ende der 90er Jahre bekanntgemachten sexuellen Übergriffe verschleppt worden war.



Aufarbeitung erschütterte das Internat

Erst am Donnerstag war ein weiterer Missbrauchsfall bekanntgeworden. Das Magazin "Stern" berichtete unter Berufung auf einen ehemaligen Schüler der Odenwaldschule, dass der bekannte Reformpädagoge Martin Bonhoeffer als Begleiter einer Klassenfahrt 1976 den Schüler sexuell belästigt habe. Der 1989 gestorbene Neffe des evangelischen Theologen und Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer war ein Freund des damaligen Schulleiters Gerold Becker.



Die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle erschütterte das Internat. Ende November waren der Vorstandsvorsitzende des Trägervereins, Michael Frenzel, und das Vorstandsmitglied Johannes von Dohnanyi nach nur sechs Monaten im Amt aus Protest zurückgetreten. Ihre Forderung, einen Entschädigungsfonds einzurichten und noch dieses Jahr mindestens 100.000 Euro für die Opfer zur Verfügung zu stellen, war im Verein und in der Schule auf Widerstand gestoßen. Stattdessen soll eine Stiftung für die Opfer gegründet werden, in die aber kein Geld aus der Schule fließen wird.