Woran sich festhalten im Trauermonat November?

"Der Friedhof ist auch ein Ort der Lebenden"

Im November stehen einem trostlose Wochen bevor: Die Tage werden kürzer und die Sonne hält oft hinterm Berg. Die Corona-Zahlen explodieren gerade. Und viele Menschen fühlen sich ihren Verstorbenen näher als sonst. Was gibt da Hoffnung?

Ein Grabengel auf Melaten / © Beatrice Tomasetti (DR)
Ein Grabengel auf Melaten / © Beatrice Tomasetti ( DR )

DOMRADIO.DE: Frau Will, Allerheiligen, Allerseelen und auch der Totensonntag sind für viele Menschen traditionelle "Friedhofstage": Für sie gehört der Besuch am Grab eines geliebten Verstorbenen zu ihrer religiösen Praxis, die sich im gesamten Trauermonat November mehr als zu anderen Zeiten zeigt. Warum ist das eigentlich so?

Eva-Maria Will (Referentin für Trauerpastoral): Der November ist nun mal das Synonym schlechthin für dunklere Tage und für Trauer. Das ist tief in unserer Gesellschaft verankert und ergibt sich aus dem Jahreskreislauf. Im Herbst zieht sich die Natur zurück, stirbt gewissermaßen ab, um neue Kraft zu sammeln und dann im nächsten Frühjahr zu neuem Leben zu erwachen. Das bezieht Goethe in seinem Gedicht "Selige Sehnsucht" auf den Menschen, wenn er sagt: "Und so lang du das nicht hast, dieses ‚Stirb und Werde!’ bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde." Das Gedicht "Herbst" von Rainer Maria Rilke meint etwas Ähnliches, wenn darin die fallenden Herbstblätter mit dem Sterben des Menschen verglichen werden. Denn die Vergänglichkeit der Natur ist auch ein Bild für die Endlichkeit des Menschen. Das könnte einen traurig stimmen, aber Rilke beendet sein Gedicht mit einem tröstlichen Bild: "Und doch ist einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält." In diesem Vers äußert der Dichter die Hoffnung, dass mit dem Tod nicht alles aus ist, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Wie auch immer das aussehen mag.

DOMRADIO.DE: Gerade die weitläufigen Friedhöfe in Köln laden in dieser Jahreszeit zu ausgedehnten Spaziergängen entlang an kunstvoll mit Skulpturen gestalteten Grabmalen ein, bei deren Betrachtung man oft zwangsläufig auf die großen Fragen nach Leben und Sterben gestoßen wird. In meiner Kindheit waren die Begriffe "Fegefeuer" und "Hölle" noch sehr präsent und auch die Ängste davor. Mittlerweile wird mit solchen Bildern kaum noch operiert. Woran haben die Menschen früher geglaubt, was gab ihnen Trost und was hat sich da inzwischen grundlegend geändert?

Will: Schon immer sind die Menschen um diese Fragen gekreist: Was passiert im Tod? Was kommt danach? Was muss ich tun, um eine bestimmte Daseinsweise zu erreichen, die in der jüdisch-christlichen Tradition der "Himmel" genannt wird? Schon früh entstanden Bilder wie eben "Hölle" und "Fegefeuer". Als prominentestes Beispiel dafür kann sicher die "Göttliche Komödie" des italienischen Dichterfürsten und Philosophen Dante Alighieri zu Beginn des 14. Jahrhunderts gelten, der beidem in seinem literarischen Werk jeweils ein eigenes Kapitel widmet. Aber auch sehr viel später noch wurde in Moralpredigten den Menschen im Sinne der sogenannten schwarzen Pädagogik anhand der Bilder vom ewigen Feuer der Hölle oder dem weniger bedrohlichen und zeitlich begrenzten Fegefeuer ins Gewissen geredet.

Die Drohbotschaft dieser beängstigenden Bilder war: Wenn ihr weiter so lebt, dann werdet ihr im Feuer der Hölle schmoren. Oder andersherum: Sorgt dafür, dass ihr diesen Qualen entgeht und eben nicht in die Hölle kommt! Es ist schon erstaunlich, wie lange sich diese überkommenen Vorstellungen gehalten haben. Dabei ist die Botschaft, die dahintersteht, durchaus noch aktuell: Das, was wir in diesem Leben tun, hat Auswirkungen. Für mich selbst, für andere, für unsere Erde. Wer von uns hofft denn nicht, dass am Ende die Erzverbrecher und Gewaltherrscher dieser Welt ihre gerechte Strafe erhalten? Die "Moral" lautet also auch heute noch: Mensch, bedenke, was du tust. Denn du wirst einmal Rechenschaft ablegen müssen.

DOMRADIO.DE: Die Auseinandersetzung mit dem Tod hat sich geändert, was sich nicht zuletzt auch an den Bestattungsformen, die sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten gewandelt haben, ablesen lässt – mit einem erkennbaren Trend zu Individualität, was Traueranzeigen, Trauerfeiern oder auch die Grabgestaltung angeht. Was kommt darin zum Ausdruck?

Will: Ich finde es schön, dass es auf unseren Friedhöfen jetzt viel bunter aussieht als früher. Menschen bringen viele Ideen ein, um die Gräber ihrer Lieben persönlich und individuell zu gestalten. Da drehen sich Windräder, aber auch Engel und andere Figuren gehören mittlerweile ganz selbstverständlich zum Grabschmuck. Es gibt Grabsteine, die bekommen einen QR-Code oder die Unterschrift des Verstorbenen. Ähnliches gilt für die Gestaltung von Traueranzeigen. Oft kommt das Foto des Verstorbenen hinzu oder ein Symbol, das den Toten charakterisiert. Und auch beim Gottesdienst oder bei der Trauerfeier geht es vielen Angehörigen darum, den Verstorbenen mit seiner Persönlichkeit noch einmal lebendig werden zu lassen, um dann von ihm gebührend Abschied nehmen zu können. Das stellt an diejenigen, die für diese Feiern zuständig sind, große Anforderungen. Es braucht eine hohe Sensibilität und Fähigkeit, den traditionellen sinnvollen Ritus immer wieder neu mit Leben zu füllen und den christlichen Gottesdienst auch zu einem heilsamen Dienst an den Menschen zu gestalten.

DOMRADIO.DE: Umgekehrt aber gibt es zunehmend – gerade auf kleineren Friedhöfen – auch das, was man als lieblos verwilderte Gräber bezeichnen muss. Hier liegt der Verdacht nahe, dass Angehörige gerade diese Herausforderung nicht annehmen, sich nicht mehr kümmern können oder wollen…

Will: Die Menschen, die das Grab eines nahen Angehörigen pflegen, investieren so einiges: Sie setzen Pflanzen, füllen Erde auf, kehren Laub weg oder reinigen die Laterne. Was hier nach viel Mühe, vielleicht auch nach lästiger Arbeit klingt, hat aber auch noch einen anderen Sinn: Wenn ich auf dem Grab arbeite, dann gehen meine Gedanken oft hin zu dem Verstorbenen. Es fallen mir gemeinsame Erlebnisse, ein Fest oder eine besondere Reise ein. Deshalb ist die Grabpflege mehr als nur körperliche Anstrengung: Sie ist Erinnerungsarbeit und gleichzeitig auch Trauerarbeit. Und sie ist eine Art Liebesdienst. Durch die Gestaltung des Grabes drücken Angehörige oder Freunde ihre Achtung und Zuneigung aus. Der Friedhof ist ja nicht nur ein Ort der Toten, sondern auch ein Ort der Lebenden. Ein Ort der Begegnung. Menschen kommen miteinander ins Gespräch. Es geschieht immer mal wieder – und gar nicht so selten – dass Hinterbliebene auf dem Friedhof sogar einen neuen Partner finden.

Hinzu kommt, dass die Friedhofskultur in Deutschland ja im letzten Jahr zum immateriellen Kulturerbe erklärt worden ist. Deshalb ist die Bestattungs- und Friedhofskultur ein wichtiges Gut, das wir uns bewahren sollten. Natürlich bietet ein ungepflegtes verwaistes Grab einen traurigen Anblick. Und unwillkürlich fragt man sich: Ist der Tote vergessen? Oder haben die Angehörigen einfach keine Zeit zu kommen? Ist ihnen der Weg zu weit oder diese Form des Totengedenkens emotional zu aufwühlend? Ist ausgerechnet das Grab für sie kein Ort, um die Nähe zu einem Verstorbenen herzustellen? Oder gibt es gar niemanden mehr, der sich kümmern könnte? Ein dauerhaft unbesuchtes Grab gibt Rätsel auf. Allerdings sollte man mit Verurteilungen vorsichtig sein.

DOMRADIO.DE: Was empfehlen Sie?

Will: Inzwischen gibt es mehrere Möglichkeiten, für die Pflege zu sorgen wie bei Memoriengräbern oder Bestattungsgärten, was zum Beispiel alleinstehende Menschen oft für den Fall ihres Todes verfügen, damit niemandem die Grabpflege aufgebürdet wird. Sich unter Bäumen beerdigen zu lassen, ist mittlerweile sehr beliebt und kann inzwischen auch auf ganz normalen Friedhöfen veranlasst werden, zumal es vielerorts wunderschöne Waldfriedhöfe mit uraltem Baumbestand gibt.

DOMRADIO.DE: Sie sagen, ein Friedhof ist auch ein Ort der Lebenden, die – auch das ein Phänomen unserer Tage – mitunter originelle Ideen entwickeln…

Will: Es gibt bereits an mehreren Orten im Erzbistum Köln Pfarreien, in denen beispielsweise Katecheten mit ihren Firmgruppen oder junge Erwachsene aus der Verbandsarbeit auf den Friedhof gehen, um sich dort um verwaiste Gräber zu kümmern, Unkraut zu jäten und Blumen zu pflanzen. Es bleibt nicht aus, dass die jungen Leute dabei über ihre Fragen zum Tod, aber auch über ihre Vorstellungen von einem Leben nach dem Tod ins Gespräch kommen. Ich selbst habe bei einem Friedhofsbesuch einmal erlebt, dass sich eine Gruppe von Frauen um solche vernachlässigten Gräber gekümmert hat. Sie hatten schon vor einiger Zeit Blumensamen ausgestreut, aus denen inzwischen bunte Blumen gewachsen waren. Diese Gräber sahen nicht nur wunderschön aus, sondern waren ein wahres Paradies für Bienen und Insekten. Nachdem mich die Frauen über den Friedhof geführt hatten, luden sie mich außerdem noch zu einer Tasse Kaffee ein. Dazu hatten sie an einer etwas abgelegenen Stelle einen Campingtisch und Stühle aufgestellt. Wir kamen dann nicht nur über die Toten ins Gespräch, sondern über Gott und die Welt. Das zeigt, dass der Friedhof ein Ruheort für die Toten, aber auch ein Ort der Begegnung und des Lebens ist.

DOMRADIO.DE: In der Trauerpastoral geht es um Angebote, die Menschen stärken sollen bei der Verarbeitung einer Verlusterfahrung. Was kann außer einem Friedhofbesuch noch helfen?

Will: Wie gesagt: Wer ein Grab pflegt, leistet Trauerarbeit. Und zwar körperlich und seelisch. Trauerarbeit kann aber auch ganz anders aussehen: Manche Menschen schreiben ihre Erinnerungen auf oder verfassen einen Brief an den Verstorbenen. Andere stellen ein Fotobuch zusammen. All das sind Formen von Trauerarbeit. Es ist eine Möglichkeit der Auseinandersetzung mit den Gedanken und widersprüchlichen Gefühlen, die kommen und gehen. Das kostet viel Kraft und fühlt sich wie Arbeit an.

Gläubigen Menschen bedeutet außerdem das Gebet sehr viel. Denn es kann ihnen einen Raum geben, um ihre Not vor Gott zu tragen und daraus Kraft zu schöpfen. Die Trauerpastoral unterstützt all dies. Sie will Menschen zur Seite stehen, solche Prozesse begleiten und auch Fragen aushalten nach dem Sinn oder dem Leben nach dem Tod. Darüber hinaus versucht sie, noch eine weitere Dimension offenzuhalten durch Seelsorge und geistliche Angebote: Sie bietet Rituale an wie die kirchliche Begräbnisfeier und andere Gottesdienste: Gedenkfeiern wie nach etwa sechs Wochen oder einem Jahr nach dem Versterben eines Menschen sind über Jahrhunderte eingeübte Formen, die auch heute noch ihren Sinn haben und Trost bedeuten.

DOMRADIO.DE: In ihren dunkelsten Stunden sehnen sich Trauernde – bildlich gesprochen – nach Licht…

Will: In der Tat. Auch eine Kerze in diesen trüben Novembertagen anzuzünden tut gut: in der Kirche, daheim oder auf dem Grab eines lieben Verstorbenen. Das brennende Licht schafft nicht nur Helle und Wärme. Es versinnbildlicht auch Lebendigkeit und den, der von sich selbst als dem "Licht der Welt" gesprochen hat.

Das Interview führte Beatrice Tomasetti.

Impressionen von Kölner Melaten-Friedhof hier.


Eva-Maria Will, Referentin für Trauerpastoral. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Eva-Maria Will, Referentin für Trauerpastoral. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Auf dem Melatenfriedhof gibt es eine Vielzahl an unterschiedlichen Grabmotiven zu entdecken.    / © Beatrice Tomasetti (DR)
Auf dem Melatenfriedhof gibt es eine Vielzahl an unterschiedlichen Grabmotiven zu entdecken. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Ein Engel als Grabstatue ist immer als Schutzengel gedacht. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Ein Engel als Grabstatue ist immer als Schutzengel gedacht. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Ein klassisches Motiv: Frau mit Urne in Trauer versunken. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Ein klassisches Motiv: Frau mit Urne in Trauer versunken. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Ein Sinnbild für blühendes und sterbendes Leben: Rosen und Herbstlaub.    / © Beatrice Tomasetti (DR)
Ein Sinnbild für blühendes und sterbendes Leben: Rosen und Herbstlaub. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Auf den Kölner Friedhöfen lässt es sich stundenlang spazieren gehen. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Auf den Kölner Friedhöfen lässt es sich stundenlang spazieren gehen. / © Beatrice Tomasetti ( DR )
Quelle:
DR