Zoologe sieht Chance für Rettung der Schöpfung

"16 verlorene Jahre"

Kann Agrarminister Özdemir das Ruder herumreißen, die "unheilige Allianz von Landwirtschaftsministerium, Bauernverband und Agrarlobby" beenden? Der Münsteraner Theologe und Zoologe Hagencord sieht eine Chance – aber auch die Kirchen in der Pflicht. 

Glücksschweine - bald auch in echt? / © Harald Oppitz (KNA)
Glücksschweine - bald auch in echt? / © Harald Oppitz ( KNA )

DOMRADIO.DE: Was bringt es denn, wenn Lebensmittel nicht mehr verramscht werden dürfen, wenn das Schnitzel jetzt nicht mehr für 1,50 Euro im Supermarkt zu haben ist? Das heißt ja nicht automatisch, dass es den Tieren auch besser geht, oder?

Rainer Hagencord (Katholischer Priester und Zoologe und Leiter des Instituts für Theologische Zoologie in Münster): Zunächst einmal nicht. Das ist ja eine Facette dieses ganz großen und sehr problematischen Feldes der industriellen Landwirtschaft, des ganzen Systems der industriellen Fleischerzeugung. Dieses Thema beschäftigt uns ja jetzt schon sehr lange und im Kontext von Klimawandel und Artensterben wird es noch mal verstärkt. Und es ist natürlich jetzt höchste Zeit, dass auch politisch etwas geschieht.

DOMRADIO.DE: Höhere Lebensmittelpreise haben nur einen Sinn, wenn die dann am Ende auch bei den Erzeugern ankommen, also bei den Landwirten. Haben die Politiker das genug im Blick?

Hagencord: In den letzten 16 Jahren hat eine unheilige Allianz von Bauernverband, Agrarlobby und Landwirtschaftsministerium geherrscht. Zuvor war es Landwirtschaftsministerin Renate Künast von den Grünen, die sich noch heftig ins Zeug gelegt hatte. Die hat noch gerungen, die hat noch gekämpft mit dem Bauernverband. Sie hat damals die Fragen, die heute wieder auf dem Tisch liegen, eingebracht: die sogenannte artgerechte Tierhaltung, andere Preise, der Blick auf die Artenvielfalt. All das, was heute auf der Agenda steht, das hat Renate Künast noch eingebracht.

Und dann kamen im Grunde 16 verlorene Jahre. Denn das Landwirtschaftsministerium, das immer in der Hand der Union war, hat letztlich den Bauernverband bedient. Dabei bin ich immer wieder überrascht, dass selbst hier im Münsterland sich immer mehr kleinbäuerliche oder mittelständische Betriebe sich vom Bauernverband überhaupt nicht mehr vertreten fühlen. Denn der Bauernverband hat wesentlich dazu beigetragen, dass wir da sind, wo wir sind. Das Prinzip "Wachse oder weiche" hat sich durchgesetzt.

Die großen Betriebe haben mehr und mehr gewonnen, die kleinen haben verloren. Wir haben in diesem System der industriellen Landwirtschaft und Tierhaltung letztlich nur Verlierer. Gewinner sind nur die Großen. Die Familienbetriebe haben verloren. Die Würde der Tiere hat verloren, die Artenvielfalt hat verloren, das Grundwasser hat verloren. Man könnte diese Liste endlos ausdehnen, um deutlich zu machen: Das, was da so billig daherkommt, ist überhaupt nicht billig. Es ist hochgradig teuer. Nur werden die Kosten verlagert auf die nachfolgenden Generationen, auf die Umwelt und natürlich die Tiere.

DOMRADIO.DE: Für wie wahrscheinlich halten Sie es denn, dass die Forderungen von Cem Özdemir dann zukünftig in der Praxis auch eine Wirkung haben?

Hagencord: Ich sehe jetzt tatsächlich durch die neue Regierung eine neue Chance. In den letzten Jahren sind wirklich sehr gute Beschlüsse des Umweltministeriums torpediert worden – vom Landwirtschaftsministerium und auch vom Verkehrsministerium. Wir haben jetzt die Chance, dass diese wesentlichen Ministerien Hand in Hand arbeiten können. Wir brauchen diese Veränderungen ja jetzt nicht als Luxusprojekt. Die Wissenschaft sagt, dass wir noch zehn Jahre haben. In diesen zehn Jahren geht es darum, dass wir grundsätzlich unser Wirtschaften, letztlich auch unser Denken verändern. Denn der Klimawandel wird uns allesamt treffen.

Und zweitens kommt das Thema Artenschutz jetzt noch mal mehr in den Blick. Auch da haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das mal auf den Punkt gebracht und sagen: Die Klimakatastrophe stellt uns Menschen vor die Frage, wie wir denn in Zukunft leben. Die Ausrottung der Arten und die Vernichtung der Lebensräume der Tiere stellt uns vor die Frage, ob wir denn als Art überhaupt noch überleben. Und diese Frage ist relativ einfach zu beantworten. Je mehr die Lebensräume von Insekten, Vögel, Reptilien, Amphibien vernichtet werden, umso weniger werden wir als Art überleben können. Das heißt auch hier in diesem Mikrokosmos Deutschland muss es sich in den nächsten zehn Jahren grundlegend verändern. Die neuen Bestrebungen sind also die letzte Chance.

DOMRADIO.DE: Aber damit das gelingen kann, müssen wir viele Akteure mitziehen, vom Produzenten bis zum Handel, den Konsumenten. An wem scheitert es denn bisher?

Hagencord: Es ist tatsächlich fast undurchdringlich. Das Landwirtschaftsministerium sagte, die Verbraucher wollten es ja so. Die Verbraucher sagten aber, sie wollten es doch eigentlich anders. Frau Klöckner hat dann immer mit den Großen gespielt, von Nestlé bis zum Bauernverband, sie hat immer nur freiwillige Labels ins Spiel gebracht, anstatt jetzt endlich Verbindliches durchzuführen. Das geschieht jetzt gerade.

Wir müssen aber auch die Kirchen ins Spiel bringen. Die Kirchennutzer sind mit ihrer Kernkompetenz gefordert, nämlich Menschen zur Umkehr aufzurufen, zu einer Bescheidenheit, zu einem anderen Lebensstil, ganz im Sinne des Evangeliums.

Es ist jetzt aber auch höchste Zeit, die Kirchen auch als Institutionen hier noch mal stärker in die Pflicht zu nehmen. Die Kirchen haben eine große Chance, jetzt alles zu tun, dass sich ein Bewusstseinswandel einstellt und eine höhere Wertschätzung für Lebensmittel und auch das Fleisch erreicht wird. Die haben sie durch den Besitz von Ländereien und Wäldern.  Die haben sie durch die Herrschaft über die Kantinen in kirchlichen Häusern und zudem noch dadurch, dass sehr viele Kinder und Jugendliche im Religionsunterricht und vor der Erstkommunion noch erreicht werden.

Wenn nur in Münster alle kirchlichen Häuser mit ihren Kantinen nur noch mit Landwirten und Landwirtinnen zusammenzuarbeiten würden, die artgerecht Lebensmittel erzeugen oder vegetarische Kost auf den Weg bringen, dann wären das nicht nur Zeichen innerhalb einer Zivilgesellschaft. Es wäre auch eine große Chance, etwas zu verändern im Blick auf die Wertschätzung für Lebensmittel und auch die Tiere, die oftmals in unsäglichen Bedingungen zu den Schlachthöfen gekarrt werden.

Das Interview führte Florian Helbig.


Rainer Hagencord, Theologe und Biologe, sowie Leiter des Instituts für Theologische Zoologie / © Lars Berg (KNA)
Rainer Hagencord, Theologe und Biologe, sowie Leiter des Instituts für Theologische Zoologie / © Lars Berg ( KNA )
Quelle:
DR