Theologe über das drohende Artensterben

"Haben es mit Versagen der Kirchen zu tun"

Rund eine Million Tier- und Pflanzenarten sind vom Aussterben bedroht. Das besagt der jüngste UN-Bericht. Das sei nichts Neues, betont Theologe und Zoologe Rainer Hagencord. Der Papst habe schon vor vier Jahren darauf aufmerksam gemacht.

Pfauenauge und Bienen / © Karl-Josef Hildenbrand (dpa)
Pfauenauge und Bienen / © Karl-Josef Hildenbrand ( dpa )

DOMRADIO.DE: Es ist das größte Artensterben seit dem Ende der Dinosaurier. Das sagen die Experten. Ist das übertrieben oder passiert das wirklich gerade?

Dr. Rainer Hagencord (Priester, Zoologe und Leiter des Instituts für Theologische Zoologie in Münster): Die Fakten sind ja unumgänglich. Wir können sie jetzt nicht mehr negieren. Da haben sich Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen über Jahre die Mühe gemacht, all‘ die Forschungsergebnisse zusammenzulegen. Wir kommen an diesen Fakten nicht vorbei. Wir kommen auch nicht an der Tatsache vorbei, dass tatsächlich dieser ökologische Kollaps droht. Und es ist keine Frage von Jahrhunderten, sondern es gibt Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die sagen: Es bleiben uns eigentlich nur noch zehn oder 15 Jahre, bis dieser berühmte "point of no return" eintritt - also der Kollaps der Ökosysteme. Damit sind die Meere, die Wälder gemeint. Schlimmer kann es eigentlich nicht werden.

DOMRADIO.DE: Hat Sie die Dimension überrascht?

Hagencord: Nein, ehrlich gesagt nicht. Ich bin schon über zehn Jahre mit der Thematik beschäftigt. Vor vier Jahren hat auch schon Papst Franziskus in der Enzyklika "Laudato si" Fakten gesammelt und zusammengetragen. Da hat er im Grunde schon alles formuliert. Und er fordert eine klare Umkehr, dass es eine ökologische Spiritualität brauche. Er hat im Grunde allen Menschen guten Willens ins Gewissen geredet, jetzt endlich diese Fakten ernst zu nehmen. Mir kommt es so vor, als sei dieser Ruf des Papstes vor vier Jahren vor allem innerhalb der Kirchen nicht angekommen.

DOMRADIO.DE: Jetzt liegen die Fakten so dramatisch auf dem Tisch. Und trotzdem ist es scheinbar nicht angekommen. Wie passt das zusammen?

Hagencord: Mein Eindruck ist, dass die ganze Frage der Ökologie und der Schöpfungs-Theologie weiterhin in den Kirchen und in den Mainstream-Theologien ein Schattendasein führt. Es geht immer um eine anthropozentrische Theologie, die den Menschen als einziges Wesen wahrnimmt und würdigt, welches mit Gott im Kontakt steht.

Die Tiere und deren Lebensräume haben im Grunde in diesen Theologien keine theologische Würdigung erfahren. Und ich habe das gerade nochmal in der Enzyklika Laudato si aufgeschlagen. Da heißt es: "Unseretwegen können bereits Tausende Arten nicht mehr mit ihrer Existenz Gott verherrlichen noch uns ihre Botschaft vermitteln. Dazu haben wir kein Recht." Hier leuchtet eine Theologie auf, die eben auch die Natur und die Welt der Tiere und der Pflanzen als einen Ort der Gotteserfahrung würdigt.

Es ist ein Sakrileg, dass die Menschheit hier veranstaltet. Das Täter-Volk ist das vermeintlich christliche Europa oder "God's own country". Hier sind die Nationen, die den Raubbau am meisten vorantreiben, die mit einem vermeintlich christlichen Menschenbild daherkommen. Das Elend ist: Wir haben es nicht nur mit dem Verschwinden der Tiere und Pflanzen zu tun, sondern wir haben es auch mit einem starken Versagen der Kirchen zu tun, die letztlich mitverantwortlich sind.

DOMRADIO.DE: Das heißt, diesem Artenschwund zu begegnen, sollte dringend zur Aufgabe aller Christen werden?

Hagencord: Ja, und auch der Kirchen. Es gibt so viele Möglichkeiten. Es gibt zum Beispiel das ganze Feld der Bildung. Ich erlebe das hier in Münster in der Gemeinde, in der ich auch mitarbeite. Wenn ich mir all die Materialen etwa in den Schulen anschaue, dann muss ich leider feststellen, dass das Thema ökologische Katastrophe überhaupt gar nicht vorkommt. Das ist eine Katastrophe! Das Thema gehört jetzt dringend in die Schulen. Bei "Friday for Future" wünscht man sich doch eine Resonanz im Sinne von "Churches for Future".

Und zweitens: Die Kirchen haben eine unfassbare Macht. Sie gehören mit zu den größten Grundbesitzern. Sie verfügen über die Möglichkeit, Landwirten und Landwirtinnen für einen anderen, ökologischen, nachhaltigen Landbau zu gewinnen oder sie sogar zu verpflichten. Die Kirchen verfügen über die Macht der Kantinen. Was allein hier in Münster an kirchlichen Kantinen, Kindergärten, Schulen, Altenheimen vorhanden ist. Hier könnte man endlich das Billigfleisch verbannen und endlich mit Landwirten und Landwirtinnen ökologisch und nachhaltig zusammenarbeiten.

DOMRADIO.DE: Sie sagen: Der Mensch als Krone der Schöpfung ist ein Missverständnis. Die Folgen dieses Missverständnisses stellen wir jetzt fest. Der Mensch ist ja nun Hauptverursacher dieser Entwicklung. Sie haben es gerade auch beschrieben. Was heißt das für uns konkret?

Hagencord: Das eine ist tatsächlich eine andere Sprache. Wir sind eben nicht Krone der Schöpfung. Die Krone der Schöpfung ist laut biblischer Auskunft der Sabbat. Die Bibel hat hier ein visionäres Bild: Das Sieben-Tagewerk mündet in den Sabbat. Das ist der Tag der Ruhe und des Friedens. Wir müssen weg von dieser Haltung, dass wir uns die Erde untertan machen. Das Zweite ist unser täglicher Umgang mit der Schöpfung. Was essen wir? Was essen wir nicht mehr? Worauf verzichten wir? Das sind die Fragen, die sich die Gemeinden stellen sollen und müssen, aber auch der einzelne Christ und die einzelne Christin. Dieser Frage gilt es nachzugehen: Wo habe ich die Möglichkeit, in meinem Konsum jetzt grundlegend etwas zu verändern.

Das Interview führte Carsten Döpp.


Dr. Rainer Hagencord / © Michele Cappiello
Dr. Rainer Hagencord / © Michele Cappiello
Quelle:
DR