Pastorin und Nahost-Expertin zu Bachs Johannes-Passion

Der Zuhörer braucht Zusatz-Infos

In der Zeit vor Ostern stehen bei vielen Chören die Matthäus- oder Johannes-Passion von Bach an. Und immer wieder kommt von Kritikern der Antisemitismus-Vorwurf. Pastorin Hanna Lehming plädiert deshalb für zusätzliche Informationen für das Publikum.

Johann Sebastian Bach  (KNA)
Johann Sebastian Bach / ( KNA )

DOMRADIO.DE: Die Johannespassion enthält einige Sätze und Ausdrücke, die für manche Menschen schon an Antijudaismus grenzen. Bach hält sich strikt an die biblischen Schilderungen, wenn der Evangelist Johannes die aufgeregten Menschen - sprich die Juden - beim Prozess gegen Jesus beschreibt - etwa in den "Wutchören". Warum ist das dann überhaupt ein Problem?

Hanna Lehming (Pastorin, Referentin Nahost und Beauftragte der Nordkirche für christlich-jüdischen Dialog): Ich glaube, wir hören diese Texte, die vor vielen hundert Jahren in musikalische Form gebracht worden sind, heute - im 20. Jahrhundert und nach dem Völkermord an den europäischen Juden - ganz anders, ganz sensibel, mit ganz anderen Ohren als die Menschen vor mehreren hundert Jahren. Das ist mit Sicherheit einer der Gründe dafür, dass wir hier ganz besonders kritisch hinhören.

DOMRADIO.DE: Wie hat Bach das Ganze denn verstanden? Er komponierte das Stück ja lange vor der NS-Zeit.

Lehming: Dazu muss man Verschiedenes sagen: Die Johannes-Passion wie auch die Matthäus-Passion bestehen aus unterschiedlichen Texten. Einerseits sind das Evangelientexte, die genau so im Neuen Testament stehen. Andererseits gibt es freie Stücke; Choräle oder Arien. Das sind Dichtungen, die nicht aus der Bibel kommen, sondern von Menschen in der Zeit gedichtet worden sind. Wenn man sich die Passion anhört, stellt man schon fest, dass es eine gewisse Spannung oder doch einen Unterschied zwischen den Evangelientexten und den freien Stücken gibt.

Die Evangelientexte transportieren solche Passagen wie: "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder" oder: "Kreuzige ihn". Was einem heute ja im Hals stecken bleibt, wenn man das singen oder sprechen soll. Und natürlich muss der Chor diese Passagen so dramatisch vortragen, wie der Text ihnen vorgibt.

DOMRADIO.DE: Sollten die Interpreten die Vortragsweise der Rufe denn ändern?

Lehming: Auf keinen Fall! Denn dann könnten sie im Grunde das Stück nicht aufführen. Sie müssen es im Sinne dessen aufführen, wie Bach diese Texte in musikalische Form umgesetzt hat. Er hat ja durchaus auch musikalische Mittel benutzt, um die Wirkung des Textes zu unterstreichen: Der unerbittliche Viervierteltakt oder ganz besondere synkopische Formen, wenn sich beispielsweise die römischen Folterknechte vor Jesus verbeugen und ihn sozusagen ironisch als König huldigen. Da hat Bach seine musikalischen Mittel eingesetzt, um die Wirkung der Texte wiederzugeben und noch zu unterstreichen.

Der zweite Teil der Musik besteht aus freien Dichtungen. Wenn man diesen freien Dichtungen zuhört, vertont Bach durch den Chor in der Matthäus-Passion die Frage: "Seht, wohin? Auf uns're Schuld." Oder er lässt im Choral singen:"Ich bin's. Ich sollte büßen. Was ist die Ursach aller solcher Plagen. Ach', meine Sünden haben dich geschlagen." Das ist sozusagen der Kontrapunkt, den Bach genauso musikalisch ausarbeitet wie vorher die Evangelientexte. Wo er den Zuhörer und die Zuhörerin auf sich selbst verweist. Da kommt auch die bach'sche Frömmigkeit zum Zuge, die genau darauf zielt, den Hörer und die Hörerin anzusprechen und zu sagen: Mach dir klar, was dein eigener Anteil an dieser Passion ist.

DOMRADIO.DE: Wie sollte die Johannes-Passion oder auch die Matthäus-Passion Ihrer Meinung nach heute vorgetragen werden?

Lehming: Sie sollte in Bachs Sinne vorgetragen werden. Man sollte jetzt nicht aus irgendeiner political correctness Rücksicht nehmen und gegen den musikalischen und den inhaltlichen Sinn dieses Stück musikalisch inszenieren. Aber man sollte in jedem Fall den Zuhörenden eine Hilfe an die Hand geben, vielleicht in Form eines Faltblatts. Ich habe so ein Faltblatt entworfen, auf dem die Fragen diskutiert und in einen Zusammenhang gestellt werden, die wir gerade diskutieren. Auf dem Faltblatt sollte auch darauf aufmerksam gemacht werden, dass wir heute solche Texte anders hören.

Vielleicht könnten auch ein paar theologische Informationen an die Hand gegeben werden - zum Beispiel, dass diese neutestamentlichen Texte nicht zur selben Zeit entstanden sind, wie das Geschehen, sondern etwa 50 bis 100 Jahre später, als sich schon eine christlich-jüdische Konkurrenz abzeichnete. Und das ist in die Texte eingetragen.  

Das Interview führte Katharina Geiger.


Quelle:
DR