Verändert die Ampel das Verhältnis Kirche und Staat?

"Keine rein christliche Gesellschaft mehr"

Im Großen und Ganzen sind viele kirchliche Organisationen mit dem Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien zufrieden. Die Religion scheint allerdings nicht viel Platz darin einzunehmen, meint Ursula Nothelle-Wildfeuer.

Der Bundestag am Wahlabend / © Monika Skolimowska (dpa)
Der Bundestag am Wahlabend / © Monika Skolimowska ( dpa )

DOMRADIO.DE: Kirchliche Organisationen haben den Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP grundsätzlich positiv bewertet. Wie ist Ihr erster Eindruck nach dem Lesen?

Prof. Dr. Ursula Nothelle-Wildfeuer (Professorin für Praktische Theologie an der Universität Freiburg): Ich glaube, dass ich insgesamt eine differenzierte Wertung vornehmen würde. Es gibt viele Punkte, die in der Tat positiv zu sehen sind. Ich würde immer noch mal hinterfragen und gucken, ob es noch eine andere Dimension gibt, die man ergänzen kann.

Das ist an vielen Stellen der Fall. Aber ich glaube, in Bausch und Bogen braucht man da gar nichts zu verdammen. Es spiegelt in vielen Perspektiven auch die Wandlung unserer Gesellschaft wider. Wir haben keine rein christliche Gesellschaft mehr, schon lange nicht mehr, das war auch vorher klar. Aber hier wird der Pluralismus und die Vielfalt jetzt noch mal sehr viel deutlicher abgebildet. Wir haben drei Parteien, die diesen Koalitionsvertrag ausgehandelt haben, die sehr unterschiedlich sind - von ihrer Herangehensweise, von ihrem Parteiprogramm - und die sich jetzt zusammengefunden haben. Und das finde ich zum Beispiel schon so ein wirklich positives Signal, das gleich zu Anfang auch da steht: Wir wollen auch der Gesellschaft Mut machen, wenn wir drei Parteien das schaffen, dass es dann in dieser Gesellschaft - so vielfältig sie auch ist - Entwicklung und Fortschritt geben kann.

DOMRADIO.DE: Wird sich Ihrer Meinung nach das Staat-Kirche-Verhältnis unter einer neuen Ampel-Regierung grundlegend verändern?

Nothelle-Wildfeuer: Ich glaube, es gibt einige Indizien dafür, dass sich da Änderungen vollziehen. Insgesamt muss man sagen - und das ist schon ein Punkt der Änderungen - nimmt die ganze Frage nach Religionen in dieser Gesellschaft platzmäßig weniger ein, als wir das in der vorherigen Koalitionsvereinbarung gehabt haben. Es geht insgesamt meistens um Organisation, Ermöglichung und Unterstützung des religiös vielfältigen Lebens, was auch richtig ist.

Unsere Gesellschaft ist religionsplural geworden. Das bedeutet für christliche Kirchen, dass sie zunächst als wichtiger Teil des Gemeinwesens wertgeschätzt werden. Auch ihr wertvoller Beitrag zum Zusammenleben, zur Wertevermittlung in der Gesellschaft. Dann kommen aber die Punkte, die verändernd angegangen werden sollen. Zum Beispiel die Ablösung der Staatsleistungen. Ein Thema, das für die Kirchen ja gar nichts Überraschendes ist, denn darüber wird in der Gesellschaft und auch in den Kirchen schon länger debattiert. Die Kirchen haben sich auch grundsätzlich offen dafür gezeigt.

Aber es gibt natürlich, wenn ich jetzt mal auf unsere Diözesen schaue, auch innerkirchliche Bedenken, was Finanzierung von Kirchen angeht. Es sind ganz viele Details, die da auch gar nicht angesprochen werden. Aber ich glaube, das ist ein Punkt, den man angehen muss. Und für die Kirchen ist das an vielen Stellen und auf manchen Ebenen auch ein wichtiger Punkt hinsichtlich ihrer Authentizität. Aber das ist natürlich eine Perspektive, die jetzt hier gar nicht so eine große Rolle spielt.

Und vielleicht noch ein Punkt: Die anderen großen Religionsgemeinschaften, die angesprochen werden, sind Judentum und Islam. Für letzteren geht es im Vertrag sehr darum, zur Integration zu kommen, zur Unterstützung muslimischer Gemeinden. Da findet sich nicht mehr das, was vorher ganz stark im Fokus war, nämlich islamistischer Extremismus und Terrorismus. Da findet sich gar nichts dazu. Und für die jüdischen Gemeinden geht es eigentlich sehr schnell um den Blick auf den Antisemitismus, was ein ganz wichtiger Punkt momentan ist. Aber ich glaube, dass jüdische Kultur und jüdisches Leben mehr als nur die Sorge um die Abwehr des Antisemitismus ist. Da hätte man sich gewünscht, eine positive Seite zu finden.

DOMRADIO.DE: Da sind wir auch schnell bei einem nächsten Thema, nämlich der Migration. Wie sieht es da aus mit Berücksichtigung der christlichen Grundwerte im Koalitionsvertrag?

Nothelle-Wildfeuer: Ich bin da eigentlich sehr froh, dass es so da steht, wie es da steht. Nämlich werden ja eigentlich die humanitäre Aufnahme und Resettlement-Programme gerade für die besonders schutzbedürftigen Menschen auf der Flucht sehr gestärkt, oder das ist das Anliegen. Das, finde ich, muss aus einer christlichen Grundhaltung auch genau die Perspektive sein.

Da finde ich es sehr gut, dass der Schutz dieser vulnerablen Gruppe so im Fokus ist, dass durchaus aber auch die Frage ist: Wie geht es um illegale Fluchtwege und Ähnliches? Dass man tatsächlich da die Politik, die politischen Gegebenheiten und Notwendigkeiten, nicht aus dem Auge verliert und trotzdem - auch wenn es hier nicht expressis verbis genannt wird - doch auf christliche Grundwerte, nämlich humanitäre Hilfe und Achtung der Menschenwürde derer, die da auf der Flucht sind, und Schutz vor Übergriffen, rekurriert.

DOMRADIO.DE: In anderen ethischen und moralischen Fragen weht aber vermutlich demnächst in Deutschland ein etwas anderer Wind. So bemängeln Kritiker, dass der Punkt Lebensschutz nicht ausreichend zur Geltung kommt, wenn zum Beispiel der Paragraf 219a, der Werbung für Abtreibung verbietet, abgeschafft werden soll. Meinen Sie, es wird hier verstärkt zu Reibungen zwischen Staat und Kirche kommen?

Nothelle-Wildfeuer: Ja, das könnte ich mir vorstellen. Das sind sicher Punkte, wo es viel Reibungsfläche gibt. Und das wäre auch einer meiner entscheidenden Kritikpunkte. Und zwar die Frage nach dem Lebensschutz insgesamt. Ich glaube, dass sowohl im Blick auf Lebensanfang als auch auf Lebensende der Fokus sehr stark auf der Autonomie liegt. "Das wirkt schon fast autonomistisch", sagte mir heute Morgen ein Kollege, mit dem ich da ebenfalls drüber sprach.

Ich glaube, aus sozialethischer Perspektive fehlt das, was ich eben im Blick auf die Flucht- und Migrationsfrage gesagt habe: Hier fehlt der Schutz der vulnerablen Gruppen. Also sowohl die Ungeborenen als auch die Menschen in der Sterbephase, wenn es um Suizidfragen geht. Es ist natürlich richtig, das Recht auf Selbstbestimmung zu sichern, aber mir fehlt ganz deutlich die andere Dimension. Diese Verpflichtung einer Gemeinschaft, diese vulnerablen Gruppen speziell in den Blick zu nehmen und etwa Suizidprävention zu stärken oder auch das Beratungsangebot im Kontext von Schwangerschaftskonflikten noch mal zu stärken. Das, könnte ich mir denken, sind Punkte, wo es deutlich Reibung geben wird.

Das Interview führte Heike Sicconi.


Ursula Nothelle-Wildfeuer, Professorin für Praktische Theologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, März 2021 / © Harald Oppitz (KNA)
Ursula Nothelle-Wildfeuer, Professorin für Praktische Theologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, März 2021 / © Harald Oppitz ( KNA )

Christian Lindner, Olaf Scholz, Annalena Baerbock, und Robert Habeck stellen in Berlin den Koalitionsvertrag vor / © Michael Kappeler (dpa)
Christian Lindner, Olaf Scholz, Annalena Baerbock, und Robert Habeck stellen in Berlin den Koalitionsvertrag vor / © Michael Kappeler ( dpa )
Quelle:
DR
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