Sozialethiker untersucht Wahlprogramme mit christlichem Blick

"Der Mensch im Mittelpunkt"

In genau 60 Tagen wird in Deutschland gewählt. Es lohnt sich, die Wahlprogramme auch aus christlich-ethischer Sicht zu untersuchen, sagt Prof. Peter Schallenberg. So etwas wie "christliche Politik" könne es aber nicht geben.

Abgabe des Wahlscheins in einer Wahlurne / © Frank Rumpenhorst (dpa)
Abgabe des Wahlscheins in einer Wahlurne / © Frank Rumpenhorst ( dpa )

DOMRADIO.DE: Sie wollen mit dem Wahlprogramm-Check keine Wahlempfehlung geben, aber warum lohnt es sich, die Programme aus Sicht der katholischen Soziallehre zu betrachten?

Prof. Dr. Peter Schallenberg (Inhaber des Lehrstuhls für Moraltheologie und Ethik an der Theologischen Fakultät Paderborn): Früher gab es ja die Tradition der Wahl-Hirtenbriefe der deutschen Bischöfe. Der letzte war 1980, der damals großes Aufsehen erregt hat und mehr oder weniger als unverhohlene Wahlempfehlung für die Union betrachtet wurde. Seitdem ist diese Tradition der Wahlhirtenbriefe vorbei. Aber wir fanden es interessant. Angeregt durch die Katholische Erwachsenenbildung Sachsen hatten wir dann die Idee, einmal mit Hilfe der katholischen Soziallehre und der evangelischen Sozialethik an einigen wichtigen Punkten nachzuschauen: Wie unterscheiden sich Parteien und was ist aus christlicher Sicht dazu zu sagen? In aller Offenheit, ohne dass man deswegen eine Wahlempfehlung abgibt.

DOMRADIO.DE: Was sind das für Aspekte, auf die Sie da schauen? Was sind diese wichtigen Punkte?

Schallenberg: Wir haben uns grundsätzlich am Docat orientiert, also an dem sozialethischen Jugendkatechismus, den die österreichischen Bischöfe vor einigen Jahren herausgegeben haben. Und da sind die großen Themen Sozial- und Wirtschaftspolitik, innere Sicherheit, Arbeitspolitik, dann natürlich Ehe und Familie, Klima und internationale Politik. Und so sind wir einiges durchgegangen und haben uns überlegt, einige exemplarische Tiefenbohrungen zu machen.

DOMRADIO.DE: Was macht denn für Sie eine Politik aus, die im Einklang mit einem christlichen Menschenbild steht?

Schallenberg: Das ist eine gute Frage. Da gibt es ja unendlich viele Diskussionen darum. Gibt es überhaupt so etwas wie christliche Politik? Ich habe in den letzten Tagen, als ich den Feinschliff an die Studie anbrachte, viel dazu gelesen. Gibt es christliche Politik? Gibt es Politik aus christlichem Geist? Gibt es Politik nach dem christlichen Menschenbild? Wir würden wohl heute sagen: Es gibt keine christliche Politik, das wäre zu eng definiert. Sondern es gibt eine Politik, wie auch viele Politikerinnen und Politiker im Bund sagen, nach unterschiedlichen Menschenbildern.

Das christliche Menschenbild geht davon aus, dass der Mensch sich einem letzten wertenden Zugriff entzieht, dass der Mensch mehr ist als nur ein Rädchen im Getriebe eines größeren Ganzen. Lateinisch: totum. Also Abwehr von Totalitarismus, von totalitären Regimen. Dass der Mensch Freiheit hat, Freiheit zum Guten, dass der Mensch zu dieser Freiheit erzogen werden kann und dass er dabei staatliche und gesellschaftliche Institutionen braucht, um auf dem Weg zum Guten nicht ins Schwanken zu kommen.

DOMRADIO.DE: Was sind Themen in den Wahlprogrammen, von denen Sie sagen, da müsste der Mensch besonders oder noch mehr im Vordergrund stehen?

Schallenberg: Das ist es auf den Punkt gebracht: Der Mensch im Mittelpunkt, das ist eigentlich etwas, was wir bei allen Wahlprogrammen gesehen haben. Vielleicht könnte man sagen, dass von den sechs Parteien, das liegt fast auf der Hand, die größten Unterschiede zum christlichen Menschenbild dort bestehen, wo der Mensch wenig als individuelle Person gesehen wird, sondern mehr als ein Teil eines Ganzen. Ganz rechts und ganz links - um das mal ohne Parteinamen auszudrücken - gibt es natürlich die Versuchung, das Ganze einer Idee, wir würden vielleicht von Ideologie sprechen, das Ganze einer Nation, was immer das auch sein mag, das Ganze einer klassenlosen Gesellschaft für höher zu bewerten als die einzelne Person.

Dementsprechend finden wir beispielsweise im Wahlprogramm der AfD, auch wenn das auf den ersten Blick durch Annäherungen an Lebensschutzpositionen des Christentums verschleiert wird, schon große Unterschiede zum christlichen Menschenbild. Einfach was die Würde eines jeden Menschen betrifft und die Unantastbarkeit eines jeden Menschen, weil eben der Begriff einer sehr diffusen Nation sehr stark gemacht wird. Am äußersten linken Rand könnte man das auch ähnlich so sehen, wenn auch nicht ganz so deutlich. In der Mitte der Parteienlandschaft, da sind sich die großen Parteien drüber einig, auch die FDP, die Grünen. Da herrscht eine große Übereinkunft darüber, dass der Mensch als Individuum einen Freiheitsraum braucht, dessen Freiheit aber mit den anderen Individuen vermittelt werden muss. Dann gibt es unterschiedliche Akzente.

DOMRADIO.DE: Lassen Sie uns zum Schluss noch kurz auf die Corona Politik schauen. Hier geht es ja vor allem um die Abwägung zwischen einerseits Gesundheitsschutz und anererseits den Grundrechten. Ist das auch aus Sicht der katholischen Soziallehre ein schwieriges Thema?

Schallenberg: Das ist ein schwieriges Thema, ganz gewiss, wir tun uns da auch nicht leicht. Und das soll auch unverhohlen gesagt werden, dass gerade auch bei Katholiken zum Teil eine große Skepsis gegenüber einem allzu forschen Zugriff des Staates auf Impfpflichten oder Impf-Bedrängungen vorhanden ist. Ich persönlich bin übrigens der Auffassung, dass der Staat große Rechte genießt im Interesse der Schwächeren und dass man sich durchaus auch vorstellen kann, entweder partiell für bestimmte Berufsgruppen, vielleicht sogar auch für die gesamte Bevölkerung im Interesse der Schwächeren und zum Schutz der Schwächeren, der vulnerablen Gruppen, eine Impfpflicht einzuführen.

Aber das kann frei diskutiert werden. Das ist meine private persönliche Meinung. Die Soziallehre legt sich da auch nicht fest, aber sie weist deutlich darauf hin, ganz im Anschluss an Matthäus 25: Was ihr dem Geringsten getan habt, habt ihr mir getan, heißt es dort und nicht: Was ihr dem Stärkeren oder dem ohnehin schon Starken getan habt oder was ihr euch selbst getan habt. Der Gesichtspunkt, den Schwächeren zu schützen, ist, glaube ich, ein sehr wichtiges Prinzip der sozialen Gerechtigkeit und unseres gesamten Sozialstaates. Und das ist ein wesentliches Argument auch in der Abwägung von Impfpflicht oder Impfung überhaupt.

Das Interview führte Carsten Döpp.


Prof. Peter Schallenberg / © Harald Oppitz (KNA)
Prof. Peter Schallenberg / © Harald Oppitz ( KNA )
Quelle:
DR
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