Josef Haslinger erzählt seine Geschichte als Klosterschüler

Protokoll eines Missbrauchs

Als Zehnjähriger wurde Josef Haslinger von Patres im Sängerknabenkonvikt Zwettl sexuell missbraucht. In seinem neuen Buch "Mein Fall" erzählt der Autor seine Geschichte. Ein Besuch einer Lesung in der Kölner Kirche St. Agnes.

 (DR)

Ganz ruhig erzählt er, unaufgeregt, mit tiefer Stimme in der Kirche St. Agnes in Köln. Die Sachlichkeit steht im Widerspruch zu dem, was er erzählt. Josef Haslinger ist in seiner Kindheit von katholischen Ordenspriestern sexuell missbraucht worden. Er erzählt von den massiven emotionalen Erschütterungen, die er erlitten hat. Durch den unaufgeregten, fast nüchternen Ton bekommt das Erzählte eine erschütternde Tiefe. Die 120 Zuhörer in der Kirche schauen in einen Abgrund von sadistischer Quälerei und sexuellem Missbrauch durch katholische Geistliche, die der Autor als Klosterschüler im Sängerknabenkonvikt Zwettl in Österreich erlitten hat.

Das Täterprofil: Der nette Pater Gottfried

Der Religionslehrer, Pater Gottfried, sei eine Ausnahme gewesen, er habe Verständnis für das Leid und die Einsamkeit der geprügelten Kinder gehabt, sagt Haslinger, ihm habe er vertraut. Doch Pater Gottfried, ein Freund der Eltern, war einer der Patres im Kloster, der die Not der Kinder ausgenutzt hat. Er hat sie sexuell missbraucht. Die Bindung an die Täter, die eben nicht das Gewaltsystem verkörperten, sondern das System der Liebe, sei umso stärker gewesen, sagt Haslinger. "Das ist fatal, weil Pater Gottfried als Täter der einzige Ansprechpartner gewesen ist, den wir gehabt haben". Wie ein Spielzeug habe er sie behandelt.

Die Ohnmacht eines Kindes

Bis zum Tod von Pater Gottfried hat der ehemalige Klosterschüler Haslinger den Namen der Täter nicht öffentlich machen können. Er sei innerlich so tief verstrickt gewesen, dass er so etwas wie eine Identifikation mit dem Täter vollführt habe, sagt der Autor. "Solange sie lebten, habe ich Rücksicht auf sie genommen. Ich wollte ihnen nicht den Lebensabend verderben". So hat Haslinger das Trauma des eigenen Missbrauchs lange versucht zu verharmlosen, indem er sich einredete, ja selbst mitgemacht zu haben. Die Ohnmacht eines zehnjährigen Kindes gegenüber einem 30jährigen Mann wollte er nicht wahrhaben. Die lebenslangen Ängste und Kränkungen hatte er verdrängt. Er konnte sich ihnen nicht stellen. "Als ich erfuhr, dass der Haupttäter gestorben ist, war es, als hätte jemand einen Schalter in mir umgelegt. Das war ein befreiendes Gefühl, weil ich dachte, jetzt kann ich es auch sagen".

'Mein Fall', eine literarische Zeugenaussage

Das Buch "Mein Fall" ist eine literarische Zeugenaussage. Neben den Erlebnissen seiner Kindheit stehen die Erfahrungen, die Haslinger später gemacht hat, als er sich entschloss, der von der Kirche in Österreich eingerichteten Klasnic-Kommission zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs seine Geschichte zu erzählen. Hin und her wurde er da geschickt, dreimal musste er seine Erlebnisse ausführlich schildern, um dann als bizarre Pointe der quälenden Prozedur gesagt zu bekommen, dass er als Schriftsteller doch alles selbst aufschreiben solle. Haslinger beschloss, dieser Aufforderung nicht nachzukommen. Er schrieb den Verantwortlichen einen Brief, um seine Entscheidung zu begründen. Aus dem Brief wurde dann das Buch "Mein Fall".

Aufklärung ist dringend nötig

Haslinger sagt, für ihn wäre es die größte Entschädigung, wenn die Kirche den Missbrauch im Konvikt Zwettl endlich konsequent aufarbeiten würde. Da gebe es aber bislang gar kein Bestreben, sagt er. In all den Jahren bis heute sei niemand der verantwortlichen Geistlichen auf ihn zugekommen, um sich persönlich zu entschuldigen. Der Missbrauch an ungezählten Kindern sei ein Jahrzehnte lang, vielleicht ein Jahrhunderte lang verübter mächtiger Sündenfall. "Wenn es der Kirche gelingt, sich dieser Sünde zu stellen, dann wäre sie vielleicht mehr in der Lage, sich wieder der Zukunft zuzuwenden", sagt er.

Ein religiöser Phantomschmerz

Haslinger selbst ist aus der Kirche ausgetreten. Seinen Glauben an die katholische Kirche hat er verloren, er kann der religiösen Institution nicht mehr vertrauen. "Wie empfindet man diese transzendentale Leere", fragt er sich. "Wenn man das ganze Religionsgebäude, was Gott repräsentiert hat, wegwischt. Die Fragen, die damit verbunden waren und für die es diesen Glauben gab, sind damit nicht verschwunden. Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Die Antworten sind alle weggewischt," erzählt Haslinger in der Kirche St. Agnes. "Ich habe das Gefühl, dass ein liturgischer Phantomschmerz in mir ist. Ich muss ihn halt aushalten".

Nach neunzig konzentrierten Minuten Lesung und Gespräch gibt es langen Applaus von den Zuhörern. Peter Otten, Pastoralreferent in St. Agnes, bedankt sich bei Josef Haslinger und betont, wie wichtig es sei, dass die Kirche sich diesen erschütternden Zeugenaussagen aussetze. Eine Kirche sei dabei der richtige Ort, um die Opfer sprechen zu lassen und ihnen zuzuhören. Nach der Lesung gibt es Wein und Brot und viele Gespräche mit dem Autor – auch das findet in der Kirche statt.


Haslinger Lesung in St. Agnes / © Peter Otten (privat)
Haslinger Lesung in St. Agnes / © Peter Otten ( privat )
Quelle:
DR