Historiker über die Stasi und ihr Erbe

"Eine Besonderheit im Vergleich zu den übrigen Ostblockstaaten"

Fast vier Jahrzehnte überwachte und kontrollierte das Ministerium für Staatssicherheit die Bevölkerung in der DDR. Im Interview blickt der Jenaer Historiker Jens Gieseke auf das Imperium von Erich Mielke und das Nachleben des MfS.

Stasi-Unterlagen: Akten und Briefe im Museum in der "Runden Ecke" in Leipzig / © Elisabeth Schomaker (KNA)
Stasi-Unterlagen: Akten und Briefe im Museum in der "Runden Ecke" in Leipzig / © Elisabeth Schomaker ( KNA )

KNA: Vor 70 Jahren wurde in der damaligen DDR das Ministerium für Staatssicherheit gegründet - was waren die Motive?

Jens Gieseke (Historiker): Eigentlich geht die Entwicklung schon 1948 los. Da äußern die SED-Parteiführer Walter Ulbricht und Otto Grotewohl erstmals gegenüber Josef Stalin den Gedanken, die Bekämpfung von Feinden der neuen Ordnung lieber in eigene Hände nehmen zu wollen. Bis dahin ist dafür hauptsächlich die sowjetischen Geheimpolizei zuständig gewesen.

KNA: Und Stalin?

Gieseke: War zunächst skeptisch, hat dann aber Ende des Jahres sein Einverständnis gegeben. Anfangs übernahmen die K5-Abteilungen bei der Kriminalpolizei die neuen Aufgaben. Am 8. Februar 1950 wurde das Ministerium für Staatssicherheit offiziell eingerichtet, eine Besonderheit im Vergleich zu den übrigen Ostblockstaaten.

KNA: Warum?

Gieseke: Weil in den anderen Ländern Geheimpolizei und Nachrichtendienst Teil des Innenministeriums oder der Polizei waren. Nur in der Sowjetunion gab es mit dem MGB zeitweilig ebenfalls ein Ministerium.

KNA: Was lässt sich daraus ablesen?

Gieseke: Einerseits die Rolle der Stasi als eine Art Musterschülerin der Sowjetunion. Andererseits lag die DDR an der Frontlinie der Systeme und ihre kommunistische Ordnung war als "halber Staat" noch gefährdeter als die der Nachbarländer. Das mag die Verantwortlichen dazu bewogen haben, der Staatssicherheit ein besonderes Gewicht zu verleihen. Ab Mitte der 60er-Jahre stellte das Ministerium jährlich bis zu 3.500 neue Mitarbeiter ein.

KNA: Wie veränderte sich mit dem personellen Zuwachs die Arbeit der Stasi?

Gieseke: Die 50er-Jahre hindurch stand der konkrete Kampf gegen die Feinde des Systems im Vordergrund: Verhaften, verhören und verurteilen. Ab den 60er-Jahren ging es dann mehr und mehr in Richtung Überwachung. Insbesondere durch die neue Ostpolitik Bonns galt es, die damit verbundenen zusätzlichen Kontakte zwischen Ost- und Westdeutschen zu kontrollieren, Fälle von politisch-ideologischer Diversion, so nannte die Stasi das, präventiv zu erkennen.

KNA: Die DDR war also ein Überwachungsstaat - war sie auch ein Unrechtsstaat?

Gieseke: Unrechtsstaat ist ein politischer, kein wissenschaftlicher Begriff. Ich habe nichts dagegen, ihn zu benutzen. Man muss sich aber klar machen, dass er keine analytische Kategorie ist. Wenn wir über die Rolle der Stasi im DDR-Alltag sprechen, ist der Begriff Überwachungsstaat sicher treffender. Wobei es in der historischen Forschung noch viele offene Fragen gibt, wie sich diese Überwachung konkret auf die Bürger der DDR ausgewirkt hat.

KNA: Was lässt sich über das Verhältnis von Stasi und Kirchen sagen?

Gieseke: Gerade in den 50er-Jahren standen die Kirchen für das alte System der bürgerlichen Welt und waren entsprechend harter Verfolgung ausgesetzt. Später wurden sie als die letzten Fremdkörper in der DDR wahrgenommen. Die Stasi versuchte deswegen, die Kirchen auszuforschen und zu unterwandern.

KNA: Eine besondere Abteilung innerhalb der Stasi war die Hauptverwaltung Aufklärung, die von Markus Wolf geleitete Auslandsspionage. War das so etwas wie die Elite des Ministeriums?

Gieseke: Anders als ihre im Inneren der DDR arbeitenden Kollegen verfolgten die rund 5.000 Mitarbeiter der HVA nicht in erster Linie die Feinde des Systems, sondern sie sollten in Bonn und Brüssel in die Schaltstellen der westdeutschen Regierung und der Nato eindringen. Trotzdem verstanden sich auch Wolfs Untergebene als Stasi-Frauen oder -Männer und Tschekisten in der Tradition der 1917 gegründeten sowjetischen Geheimpolizei, der Tscheka.

KNA: Ab 1957 bis zum Ende der DDR war Erich Mielke Minister für Staatssicherheit. Was war er für ein Mann?

Gieseke: Vom Auftreten her erinnerte er an eine Art Feldwebel der kommunistischen Weltrevolution, der bewusst eine schlichte, ja primitive Sprache pflegte. Er selbst hat das als Ausdruck seiner Arbeiterehre verstanden. Bis zum Ende seines Lebens war er ein beinharter Stalinist, geprägt durch seine Aufenthalte in Moskau in den 30er-Jahren. Weil er sich aber während des Zweiten Weltkriegs in Spanien und Frankreich aufgehalten hatte, galt er den Sowjets als unsicherer Kantonist. Das dürfte auch ein Grund dafür sein, weswegen er sich später als besonders treuer Vasall des sowjetischen KGB gab.

KNA: Noch heute sorgt die Stasi für Debatten, aktuell steht Holger Friedrich, Verleger der "Berliner Zeitung", in der Kritik, nachdem im vergangenen Herbst die "Welt am Sonntag" seine Tätigkeit als Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi publik machte.

Gieseke: Das ist ein gutes Beispiel für den eigentlich unzulänglichen Versuch, aus einer Akte ein historisches Urteil zu fällen. Das verleiht der Stasi im Nachhinein eine Macht über öffentliche Debatten und die Geschichtsschreibung, die ihr eigentlich nicht zusteht. Wenn man sich die Details anschaut, so scheint mir der Lebensweg von Holger Friedrich typisch für die Jugendlichen in der Endphase der DDR zu sein.

KNA: Wie meinen Sie das?

Gieseke: Die meisten von ihnen erfüllten zwar noch alle Ansprüche, die der Staat an sie richtete, einige traten in die SED ein, verpflichteten sich zu einem dreijährigen Militärdienst bei der NVA oder unterschrieben als IM bei der Stasi. Aber sie verfolgten doch häufig eine Agenda jenseits der ideologischen Ansprüche.

KNA: Erkennen Sie heute noch so etwas wie ein Erbe der Stasi und der DDR?

Gieseke: Meiner Ansicht nach gibt es eine eigene Mixtur von Politikverständnis im Osten: Relativ fern von etablierten Parteien aufgrund von Negativerfahrungen in der DDR, relativ stark auf pragmatische Lösungen im lokalen Raum fixiert und weniger interessiert an großen Gesellschaftsdebatten.

KNA: Was hält der Historiker von der Überführung des Stasi-Unterlagenarchivs in das Bundesarchiv?

Gieseke: Das halte ich für sinnvoll. Zum einen könnte dieser Schritt den Zugang und die Erschließung von Akten professionalisieren. Zum anderen tritt drei Jahrzehnte nach 1989 die Generation der wichtigen Akteure aus der Bürgerrechtsszene wie Joachim Gauck, Marianne Birthler oder Roland Jahn allmählich in die zweite Reihe. Das wirft ohnehin die Frage auf, ob eine Sonderbehörde noch sinnvoll ist.

KNA: Wieso?

Gieseke: Die Bürgerrechtler tendieren dazu, ihr Erbe zu verteidigen. Das ist in mancherlei Hinsicht redlich und nützlich, kann aber auch den Fortgang von öffentlichen Debatte blockieren, weil man noch an Fragen der 90er-Jahre festhält: Wer war IM - wer hat Schuld auf sich geladen?

Das Interview führte Joachim Heinz.


Quelle:
KNA