Wolfgang Thierse kritisiert Kemmerich-Wahl

"Das ist wirklich ein Sündenfall"

Der FDP-Politiker Thomas Kemmerich ist neuer Ministerpräsident in Thüringen – gewählt mit den Stimmen der AfD. Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse spricht von einem "Sündenfall". Neuwahlen sieht er als die einzige Lösung.

Wolfgang Thierse / © Christoph Soeder (dpa)
Wolfgang Thierse / © Christoph Soeder ( dpa )

DOMRADIO.DE: Wie war denn Ihre erste Reaktion, als sie hörten, dass Thomas Kemmerich von der FDP mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten von Thüringen gewählt worden ist?

Wolfgang Thierse (SPD-Politiker, ehemaliger Bundestagspräsident und Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken): Ich war fassungslos, ich war entsetzt. Das, was da passiert ist, ist ein tiefer Sündenfall, ein demokratischer Absturz - gemeinsame Sache mit der AfD zu machen, und dann noch mit der Höcke-AfD! Höcke darf man als Neonazi bezeichnen. Das ist wirklich ein Sündenfall. Das straft die bisherigen Beteuerungen von FDP und CDU Lügen.

DOMRADIO:DE: Das heißt, Thomas Kemmerich hätte sagen müssen: Ich nehme die Wahl nicht an.

Thierse: So naiv kann er nicht gewesen sein, als er kandidierte, dass er ausschließen durfte, dass die AfD ihn mitwählt. Er muss damit gerechnet haben. Wenn es anders gewesen wäre, hätte er sofort sagen müssen: Ich nehme die Wahl nicht an. Aber er hat es nicht getan. Er hält jetzt noch daran fest. Er wendet sich gegen Neuwahlen. Neuwahlen sind die einzige anständige, moralisch-politisch zu rechtfertigende Lösung aus dieser Katastrophe, die da stattgefunden hat.

DOMRADIO:DE: Es gibt auch Leute, die sagen: Das ist ein Mann der bürgerlichen Mitte. Er ist gegen den Kandidaten der Linken und gegen den Kandidaten der AfD demokratisch gewählt worden. Was sagen Sie dazu?

Thierse: Was heißt demokratisch gewählt? Was heißt hier bürgerliche Mitte? Wenn man so redet, hat man schon die AfD zur bürgerlichen Mitte gezählt. Denn dieser Herr Kemmerich ist eben von der AfD gewählt - die meisten Stimmen, die er bekommen hat, sind die von der AfD. Es gab fünf Stimmen von den Liberalen und wenige Stimmen von der CDU. Und dann redet er von der bürgerlichen Mitte. Das heißt, er bezieht die AfD jetzt ein in die bürgerliche Mitte. Da muss er wissen, was er da tut. Und vor allem muss es der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner wissen, der sich ja bisher gewissermaßen in einem Eiertanz distanziert hat aber dann wieder nicht distanziert hat.

DOMRADIO:DE: Kemmerich selbst hatte ja sofort gesagt: Die Brandmauer gegen die AfD steht. Das ist in Ihren Augen dann ja wohl kaum glaubwürdig.

Thierse: Das ist ein schlechter Witz. Die Brandmauer steht, nachdem man sich von der AfD hat wählen lassen. Man würde nicht mit ihr zusammenarbeiten. Was ist denn eine gemeinsame Wahl? Das ist die intensivste Form der Zusammenarbeit.

DOMRADIO:DE: Viele ziehen jetzt historische Parallelen. Zum Beispiel die, dass schon vor 90 Jahren ausgerechnet in Thüringen die erste Landesregierung unter Beteiligung der NSDAP gebildet wurde. Wie finden Sie das? Sind solche Vergleiche angemessen oder doch ein bisschen schräg?

Thierse: Dass die Erinnerungen sich einstellen, ist doch unvermeidlich. In Thüringen in den 1920er Jahren hat sich eine rechtsnationalistische völkische Partei das erste Mal geregt und mitgeholfen, eine konservative Regierung zu bilden. Und dann wurde Thüringen das erste Land, das von einer Nazi-Partei beherrscht wurde. Wir leben in Deutschland. Es ist gut, dass wir ein Gedächtnis haben. Das hilft uns hoffentlich auch weiterhin, gegen rechtsextremistische Gefahr jedenfalls mehrheitlich immunisiert zu sein.

Diese Erinnerung heißt ja nicht, dass wir jeden AfD-Wähler zum Neonazi stempeln. Aber Höcke und die anderen Ideologen, das sind völkisch nationalistische Ideologen. Und die Bürger können und sollen wissen, wer das ist. Demokratische Politiker, vor allem Herr Kemmerich und auch Herr Mohring von der CDU, wissen das, und trotzdem machen sie gemeinsame Sache mit der AfD und mit Höcke.

DOMRADIO:DE: Sie selbst sind ja bekennender Katholik. Finden Sie, dass die Kirchen jetzt auch ganz klar Stellung beziehen müssen?

Thierse: Glücklicherweise haben beide Kirchen sich durchaus deutlich zum Thema AfD und zu deren latentem Rassismus, ihrer Ausländerfeindlichkeit und der latent antidemokratischen Einstellungen geäußert. Es ist anders, das jetzt auch zu wiederholen.

Wir wissen ja auch, dass es eine Menge evangelischer und katholischer Christen gibt, die die AfD wählen. Es geht nicht darum, die zu verteufeln. Aber Aufklärungsgespräche und die Ermahnung, genauer hinzugucken, zu wem sie ihren Ärger und ihre Wut tragen, ist schon notwendig. Und bezogen auf den Vorgang jetzt: Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) hat Kemmerich gratuliert. Das ist ein bestürzender Vorgang. Auch die FDP muss wissen, dass der einzige Sieger dieser Operation, zu der der FDP-Landesvorsitzende sich zur Verfügung gestellt hat, die AfD sein wird.

DOMRADIO:DE: Thomas Kemmerich selbst ist auch in der katholischen Kirche. Müsste seine Kirche ihm nicht gehörig ins Gewissen reden?

Thierse: Ich will jetzt nicht danach fragen, in welchem leidenschaftlichen Ausmaß Herr Kemmerich Katholik ist. Aber wenn er sein eigenes Gewissen erforschen würde, dann könnte er nicht bei dem bleiben, was er jetzt sagt. Er sollte jedenfalls nicht mehr so verlogen argumentieren, dass die Brandmauer stehe und dass es keine Zusammenarbeit gebe, nachdem er gerade als Ergebnis einer Zusammenarbeit Ministerpräsident geworden ist. Ich sage: Der einzige Ausweg ist sofortiger Rücktritt und baldmöglichste Neuwahlen.

DOMRADIO.DE: Das sagt Kanzlerin Merkel ja auch. Sie nennt die Wahl unverzeihlich und sagt, Neuwahlen seien unumgänglich. Wie optimistisch sind Sie denn, dass eine solche Neuwahl dann andere Ergebnisse bringen und klarere Verhältnisse in Thüringen bringen könnte?

Thierse: Ich fürchte, dass die Neuwahlen zunächst einmal der AfD helfen. Sie ist die Siegerin der Operation. Aber die Mittäter dieser Operation heißen Kemmerich und Mohring. Und ich kann mir nur wünschen, dass die thüringischen Demokraten das im Gedächtnis behalten, wenn es demnächst einmal Neuwahlen gibt. Denn wir können doch nicht aus Angst vor Neuwahlen zusehen, wie ein Ministerpräsident aus einer Fünf-Prozent-Partei kommt und nicht regieren kann.

Und er kann nicht regieren. Es sei denn, er stützt sich immer wieder auf die AfD. Er hat sich auf eine Weise von dieser Höcke-AfD abhängig gemacht, die geradezu bestürzend ist. Deswegen sage ich: Der einzige Ausweg ist, nachdem er leider das Mandat angenommen hat, es sofort niederzulegen. Ich hoffe sehr, dass die Bundes-FDP weiß, welche Verantwortung sie für unsere Demokratie hat. Bisher sehe ich das nicht. 

Das Interview führte Hilde Regeniter.


Thomas L. Kemmerich / © Bodo Schackow (dpa)
Thomas L. Kemmerich / © Bodo Schackow ( dpa )
Quelle:
DR
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