Der Kompromiss – Wenn auch die Gegenseite eine Chance bekommt

"Das Gegenteil ist Fanatismus und Tod"

Manchmal geht es "nur" um die Frage: Wohin in den Urlaub? Doch oft reicht die Notwendigkeit zum Kompromiss viel tiefer, nämlich dann, wenn sie das Existenzielle berührt. In der Politik oder im Zusammenleben der Menschen.

Autor/in:
Leticia Witte
Die Suche nach einem Kompromiss / © Andrii Yalanskyi (shutterstock)
Die Suche nach einem Kompromiss / © Andrii Yalanskyi ( shutterstock )

Jeder braucht ihn. Aber es scheint zunehmend mühseliger zu sein, ihn zu finden: den Kompromiss. Denn dafür müssen Menschen miteinander reden und einander zuhören. Und ein echtes Interesse am Gegenüber und am Ausgleich haben. All das ist bekanntlich ein wenig aus der Mode gekommen – daher sieht es so aus, als ob eine solche Einigung mittlerweile schwieriger zu erreichen wäre als ohnehin schon. Und dabei geht es keineswegs "nur" um die jahreszeitentypische Frage: Wohin in den Urlaub, ans Meer oder lieber in die Berge?

Existenzieller ist dies: Anhänger unterschiedlicher politischer Lager boykottieren den Austausch. Kontroversen gleiten auf eine persönliche Ebene ab und enden in Beleidigungen – in Parlamenten, Freundeskreisen und Familien oder in der virtuellen Welt. Es herrscht der Monolog. Und nach wüsten Beschimpfungen ist manchmal kein Gespräch mehr möglich. Vor einiger Zeit warnte auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) vor dem Verlust der Kompromissfähigkeit.

Toleranz und Respekt

Ein Kompromiss ist ohne Dialog nicht denkbar. Er wird definiert als Ausgleich zwischen konkurrierenden Interessen oder Überzeugungen. Ein Kompromiss ist eine Einigung, bei der die Beteiligten zwar nicht komplett auf ihre Interessen verzichten, aber sie doch in Teilen zurückstecken, bis eine Einigung für sie noch tragbar ist. Und hin und wieder ist die Aushandlung eines Zugeständnisses große Kunst. Damit die Einigung als gerecht empfunden wird, müssen alle Seiten gleichberechtigt sein. Hin und wieder ändern sich auch Standpunkte. Demokratien und pluralistische Gesellschaften brauchen Kompromisse – und würden ohne sie gar nicht funktionieren.

Immer wieder wird betont, dass Menschen nur zu Kompromissen kommen, wenn sie verbindliche Grundwerte wie die Menschenrechte anerkennen sowie zu Toleranz und Respekt imstande sind. Das alles ist nicht so einfach vorauszusetzen. Wie ist es also um die Fähigkeit zum Kompromiss bestellt? Immerhin etwas, wovon der Soziologe Georg Simmel gesagt hat, es sei eine der größten Erfindungen der Menschheit.

"Hitze des politischen Gefechts"

In der "Hitze des politischen Gefechts" könne gelegentlich der Eindruck entstehen, dass der Kompromiss aus der Mode gekommen sei, sagt der Freiburger Philosoph Andreas Urs Sommer. In Deutschland scheine der Kompromiss ohnehin nicht sonderlich beleumundet zu sein. Sommer begründet das mit dem "Erbe alter autoritärer Staatsformen und Staatsdurchsetzungshoffnungen, trotz aller Demokratisierung. In Deutschland gibt es eine große Schwäche dafür, demjenigen Stärke zuzuschreiben, der imstande ist, seine Interessen ohne Abstriche durchzusetzen." Wenn eine Staatsgeschichte keine starken autoritären Traditionen aufweise, sei es einfacher, sich mit dem Kompromiss anzufreunden.

Ein Ausgleich sei gerade zwischen Menschen mit sehr unterschiedlichen Werten nötig – und auch möglich. Sie müssten versuchen, "die Vielfalt an Orientierungen, Werten und Weltanschauungen möglichst zu integrieren", betont Sommer. "Das geht nie vollständig, man muss immer Abstriche machen." Und bedenken, dass Werte und Orientierungen im Fluss seien. Der Kompromiss sei nicht per se das Ideal und nicht immer möglich.

"Ein Synonym für Leben"

Wer es dennoch versuchen möchte, dem rät Sommer, die Gegenseite nicht zu "dämonisieren" und anzuerkennen, dass die eigenen Interessen nicht die allein seligmachenden seien. Man solle erkennen, "dass die Fähigkeit zum Kompromiss eine eigentümliche Form der Stärke ist". Man verhelfe auch anderen "zur wenigstens teilweisen Verwirklichung ihrer Interessen".

Der im vergangenen Jahr gestorbene israelische Schriftsteller Amos Oz sagte in einem seiner Gespräche mit seiner Lektorin Shira Hadad, die jüngst als Buch herauskamen: Der Kompromiss habe nichts damit zu tun, die andere Wange hinzuhalten oder sich zu verleugnen. Sondern: "Taste dich vor, vielleicht findest du ja etwas, auf dem Drittel des Weges, auf zwei Dritteln oder auf der Hälfte des Weges."

Der Kompromiss sei - anders als "besonders ideologisch begeisterte junge Leute" dächten – mitnichten verlogen, kein Ausdruck von Schwäche oder Opportunismus, betont Oz. "In meinen Augen ist Kompromiss ein Synonym für Leben. Und das Gegenteil von Kompromiss ist Fanatismus und Tod."


Quelle:
KNA